Abschreckung: Wie lange noch?

■ Die atomare Gefahr in der Golfkrise

GASTKOMMENTARE

Es gibt einen Umsturz militärischer Verhältnisse wie es einen Umsturz politischer Verhältnisse gibt, ersteres ist allerdings seltener. Im Moment geschieht ein solcher Umsturz, und er ist äußerst schwerwiegend. Seit gut vierzig Jahren hat man uns gesagt, Atomwaffen dienten nicht zum Kriegmachen, sondern zur Verhinderung des Krieges. Heute stellt sich die Frage: Wie lange noch?

So wie die ost-westliche Abschreckung sich nicht auf die Konfrontation zwischen „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ beschränkte, sondern auch unmittelbare Folgen auf die politische Ökonomie des Planeten hatte, so sagt auch der trügerische Begriff des „Nord-Süd-Konfliktes“ nichts über die eigentliche Natur und den tieferen Sinn der heutigen Bedrohungen aus. Ob wir wollen oder nicht: Wir müssen die sogenannte „Golfkrise“ - ein Euphemismus - ohne Rückgriff auf die Kategorien des „Guten“ und des „Bösen“ analysieren. Der Bezugsrahmen einer solchen Analyse wird auch nicht durch die verschiedenen beteiligten Parteiungen gegeben, sondern allein durch die Materialien, die im Spiel sind: chemische und Atomwaffen.

Sinnlosigkeit, nicht das 'Falsche‘, ist die Grenze des Wahren“, hat der Katastrophenspezialist Rene Thom sehr treffend gesagt. Sinnlos ist heute auch die Unterscheidung zwischen „gerechtem“ und „ungerechtem“ Krieg geworden, denn das Ausmaß der Bedrohung ist mit dem Kriegsziel nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen. Wer lokal handeln will, muß global denken: Die „ökologische“ Strategie ist heute zwingend.

Sie reduziert sich nicht auf die Durchsetzung des Völkerrechts, der staatlichen Souveränität und einer freien Öl- und Rohstoffversorgung. Bedacht werden müssen vor allem die unerhörten neuen Risiken: das Risiko der chemischen Waffen und Tausender von Toten beiderseits der irakisch -saudischen Grenze, aber auch das Risiko der taktischen Atomwaffen. Die Gefahr ist, daß durch den Einsatz chemischer Waffen die brüchige Schwelle der Abschreckung, die seit einigen Jahren zwischen diesen Waffentypen liegt, überschritten wird.

Die Entwicklung und Ausbreitung der Atomwaffen ist ja bisher weniger durch wissenschaftliche Geheimnisse oder die technologische Unzulänglichkeit armer Länder gebremst worden als durch die Unmöglichkeit einer effektiven Anwendung gegen einen Gegner, der selbst über riesige Arsenale dieser Waffengattung verfügte. Wenn diese Hemmschwelle durch die Golfkrise verschwinden würde, könnte man mit einer unmittelbaren Ausbreitung der Atomtechnologie rechnen.

Denn wenn eine Waffe sich erst als effizientes Mittel erweist, kann niemand mehr die Fabrikation und den Besitz dieser Waffe verhindern. Alle nationalen oder internationalen politischen Institutionen wären hier machtlos. Falls Saddam Hussein gegen Feinde wie Amerika, Großbritannien (ohne die UdSSR und Frankreich zu vergessen)

-alles Atommächte - chemische Waffen einsetzt, wird die Anwendung atomarer Waffen kaum zu verhindern sein. Und dies wird nicht nur für das irakisch-kuwaitische Schlachtfeld gelten, sondern überall zugleich. Zu verteidigen ist also nicht nur die saudische Grenze, sondern auch die Grenze, die die symbolische Bedrohung von der tatsächlichen Anwendung trennt.

Auf symbolischer Ebene ist die Abschreckungskraft chemischer Waffen genauso hoch wie die der Atomwaffen nicht umsonst werden sie die „Atombombe der Armen“ genannt. Wer seine Vorbehalte gegen den Einsatz einer dieser Waffen aufgibt, öffnet die Büchse der Pandora, mit all den Verheerungen, die das nach sich zieht, und - was wahrscheinlich noch schlimmer ist - mit der Konsequenz der Ausbreitung dieser Waffen in dem Moment, wo sich die Abrüstung der Arsenale ankündigte.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Hier soll nicht der Nachgiebigkeit gegenüber einem größenwahnsinnigen Führer das Wort geredet werden, der sich nicht scheute, Kriege gegen den Iran und Kuwait zu entfesseln und in seinem eigenen Machtbereich Kurden zu vergasen. Der Satz: „Saddam Hussein ist Hitler“ scheint mir schwach, ja optimistisch angesichts der Risiken von 1990, die mit denen von 1940 nicht zu vergleichen sind.

Daß die Russen und Amerikaner den „Kalten Krieg“ beendet haben und vielversprechende Schritte in Richtung Abrüstung machen, liegt nicht so sehr am gegenseitigen guten Willen der beiden Mächte, sondern daran, daß sie den Rüstungswettlauf, der ihre Wirtschaften ruinierte und außer Kontrolle zu geraten drohte, nicht mehr beherrschten. Zitat Gorbatschow: „Die Existenz von Atomwaffen schafft ein ständiges Risiko. Die Weltlage kann sich in eine Richtung entwickeln, wo sie nicht mehr von der Politik abhängt, sondern zum Spielball des Zufalls wird.“ (Aus: Perestroika.)

Ein Umsturz der militärischen Optionen hat die Eigenschaft, politische Umstürze „ohne Staatsstreich“ zu bewirken einfach durch das Gewicht der Tatsache, daß sich die Natur von „Macht“ gewandelt hat. Die heutige Bedrohung betrifft nicht nur das Völkerrecht, die territoriale Integrität oder die Demokratie - just zu dem Zeitpunkt, wo sie ein bißchen von ihrer Anziehungskraft wiedergewonnen hat -, sondern auch die Ökonomie des geopolitischen und strategischen Denkens, mit dem exorbitanten Risiko einer um sich greifenden militärischen Anarchie, deren Vorzeichen die Ausbreitung von Atom- und chemischen Waffen wäre.

In der Golfkrise wird zum ersten Mal die Abschreckung zwischen dem Starken und dem Schwachen auf die Probe gestellt, nachdem sich die Abschreckung zwischen den Stärksten - dem Osten und dem Westen - aufgelöst hat. Frankreich muß in dieser Situation sehr aufmerksam sein. Sorgen sollte es sich nicht nur über die Sicherheit der Öllieferungen machen, sondern auch über die Gültigkeit seiner atomaren Abschreckungsstrategie.

Paul Virilio

Der Autor ist Philosoph und lebt in Paris. Übersetzung: Thierry Chervel