Was tun nach den „Siegen des Kapitalsystems“?

■ Helmut Pohl, Sprecher der Gefangenen aus der RAF, äußert sich zu Fragen der Zeit / Ein Dokument zur RAF-Geschichtsbewältigung nach der Festnahme der ehemaligen Kampfgefährten in der DDR, zu den Perspektiven der Gefangenen und zur Ratlosigkeit über die Zukunft der militanten Linken

Von Gerd Rosenkranz

In einem Nebensatz seiner achtseitigen Erklärung erwähnt Helmut Pohl eine „Fachkraft“ des Staatsschutzes, die bei einer der zahlreichen Zellenrazzien stets „nur Anfang und Ende der (aufgefundenen) Texte inspiziert“ und nach Verdächtigem durchforstet habe. Der Ehrentitel für den Mann von der Gegenseite scheint nicht nur ironisch gemeint. Denn auch in Pohls aktuellem Papier finden sich die vermutlich wichtigsten Passagen zu Beginn und am Ende des ausgesprochen schwer lesbaren Textes. Dazwischen viel Geschichtsbewältigung und das Eingeständnis, die Mobilisierung neuer Anhänger ausschließlich über die Haftbedingungen sei von Anfang an ein Fehler gewesen. Außerdem wird versucht, die aussagebereiten DDR-Aussteiger zu einem situationsbedingten Betriebsunfall in der 20jährigen RAF-Historie umzuinterpretieren, und schließlich folgt das kaum verbrämte Bekenntnis, angesichts des weltweiten „Siegesrausches des Kapitalsystems“ die Entwicklung künftiger politischer Auseinandersetzungen nicht abschätzen zu können.

Helmut Pohl, der der sogenannten ersten Generation der RAF angehörte - also weiß, wovon er spricht - fürchtet vor allem zweierlei: Daß die Aussagen der ehedem in die DDR entsorgten Kampfgefährten dem Staat zu einer neuen, „gefälschten amtlichen Wahrheit“ über die RAF-Geschichte verhelfen könnten. Und daß dem im Zuge der Serienverhaftungen im Juni voreilig erwarteten „Endsieg über die RAF“ nach dem Anschlag gegen Staatssekretär Neusel nun „eine neue Phase in der Vernichtungsstrategie gegen die Gefangenen“ folge. Der Staat halte sich an die Inhaftierten, weil er der aktiven RAF nicht habhaft werden könne.

Uneingeweihte werden im unklaren gelassen

Auf die offenen Drohungen gegen die Gefangenen - Pohl bezieht sich dabei ausdrücklich auf Stoibers (CSU -Innenminister in Bayern) Forderung nach einem neuen Kontaktsperregesetz und den Vorwurf von Generalbundesanwalt von Stahl, die Anschläge würden aus den Zellen gesteuert reagiert der Inhaftierte dialektisch: „Die Isolation zerstört immer noch, aber wir haben sie als Strategie gegen uns wirkungslos gemacht.“

Das „Projekt der Gefangenen“ soll weiter verfolgt werden. Pohl versteht darunter, wie bereits während des Hungerstreiks, die Sequenz „Zusammenlegung als Übergang, Diskussion, Freiheit“. Wie das praktisch aussehen kann, darüber läßt der Autor die Uneingeweihten unter seinen Lesern im Unklaren. Die Gretchenfrage der Gewalt oder die Gewaltfrage im Zusammenhang mit diesem „Projekt“ bleibe jedenfalls „ein offener Prozeß“, heißt es gegen Ende des Textes.

Man erinnert sich: Im Verlauf des letzten Hungerstreiks im Jahr 1989 hatten breite Teile der liberalen Öffentlichkeit Hoffnungen auf ein Ende des bewaffneten Kampfes der RAF gehegt, falls die Zusammenlegungs-Forderung erfüllt werden würde. Diese Erwartungen wurden von zahlreichen Äußerungen aus dem Knast gespeist. Damals, schreibt Pohl jetzt, habe man allen Gesprächspartnern „die dicke Balken-Formulierung hingelegt: Es verschiebt die ganze Auseinandersetzung ... in Richtung Diskussion, politischer Prozeß“.

Dann folgt ein Satz, der grammatikalisch seine ganze (beabsichtigte?) Uneindeutigkeit daraus gewinnt, daß er sich entweder auf die künftige Haltung der RAF beziehungsweise der RAF-Gefangenen oder (dies scheint wahrscheinlicher und entspräche früheren Äußerungen der Gefangenen) auf die der staatlichen Hardliner beziehen kann, die der Hungerstreikforderung im vergangenen Jahr nicht nachgeben wollten: „Nein, Endsieg ist angesagt“.

Im direkten Anschluß dann eine Schlußpassage, die hier fast vollständig dokumentiert und der Interpretationskunst der geneigten Leserschaft anheim gestellt werden soll:

„Unser Projekt (Zusammenlegung..., Red.) ist eine Möglichkeit, wir nehmen es aber, wie es kommt. Es wäre sozusagen im Interesse aller Freunde der Rationalität und natürlich im Interesse der Gefangenen, denn Gefangene wollen natürlich raus. Für uns sind es reale, materielle Schritte, oder es ist nichts. Das ist ganz einfach aus unserer Lage so. Bis ins Konkreteste, daß es kaum mehr jemand unter den Gefangenen gibt, der/die nicht krank ist.

Im Kern bedeutet unser Projekt, daß die Kette von zwanzig Jahren Vernichtungsstrategie gegen die Gefangenen durchbrochen wird und in der Konsequenz aus dieser 20jährigen Geschichte (...) Zusammenlegung in großen Gruppen.

Manuel Jose Sevillano ist tot.“

Der Schlußsatz ist wortgleich mit dem Anfang der RAF -Erklärung zum Attentat auf Staatssekretär Neusel Ende Juli in Bonn. Er erinnert an einen im Mai nach einem Hungerstreik gestorbenen spanischen Gefangenen.

Die Furcht der Staatsschützer

Fast genüßlich analysiert Pohl weiter vorn im Text seiner Erklärung, wie staatliche Stellen nach dem Auffliegen der DDR-Aussteiger reihenweise die über Jahre hinweg gegen einzelne dieser Gruppe erhobenen Vorwürfe (zuletzt bei Sigrid Sternebeck) zurücknehmen mußten. Für ihn ist klar, daß die Staatsschützer nun soviel „in die Aussteiger investieren“, weil ihnen sonst „um Haaresbreite (...) die ganze urteilsgepflasterte Strecke über die Jahre rückwärts bloßgelegen hätte und vielleicht politisch eingebrochen wäre“. Deshalb müsse das „Aussteiger-Programm jetzt umso unterhaltsamer ausfallen“.

Damit bezieht sich Pohl auf einen unter Staatsschützern in der Tat bereits ängstlich kolportierten Verdacht, daß manche der lebenslänglich Einsitzenden für Straftaten der RAF verurteilt sein könnten, an denen sie gar nicht beteiligt waren. Die Aussagen der DDR-Rückkehrer belasten eben nicht nur den einen oder anderen zusätzlich, sie entlasten gleichzeitig andere. Wären die jetzt Festgenommenen vorher irgendwo verhaftet worden, mutmaßt Pohl wohl nicht zu Unrecht, wären sie ebenso zu „lebenslänglich“ verurteilt worden, wie andere vor ihnen. Pohl: „Die Kriminaltechnologie, das BKA-High-Tech, ist heute ein Voodoo -Kasten, mit dem sich buchstäblich jedes gewünschte Ergebnis produzieren läßt.“

Der 1986 wegen seiner angeblichen Beteiligung am Sprengstoffanschlag auf den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein zu lebenslanger Haft verurteilte Pohl überrascht sein Publikum mit einer eigenen Interpretation des Weges jener acht DDR-Aussteiger, deren Übersiedlung in die DDR 1980 von ihm selbst und anderen Standhaften im Konsens mit den Betroffenen (und ohne die Palästinenser, s. taz vom 25.08.) eingefädelt worden sei. Die acht seien nämlich aus einer sehr spezifischen, ideologisch überfrachteten Situation heraus allein aufgrund der gegen die Gefangenen praktizierten Isolationshaft zur RAF gestoßen:

„In unserer Sprechkurzfassung: An der Empörung über den Knast mobilisiert, in dieser mitt-70er Polithölle zur propagandistischen 'RAF-Spitze‘ getrieben, vor oder nach '77 plötzlich illegal, ganz schnell ernüchtert am falschen Ort oder sowieso nur vor der 77-Walze geflüchtet.“

Der äußere Druck Mitte der 70er Jahre - Isolation der Gefangenen, Sympathisantenhetze, Entsolidarisierung der Linken - habe damals im Umfeld der RAF eine Moral produziert, die zur politischen Ideologie hochgetrieben worden sei. Politische Ideologie sei jedoch etwas ganz anderes als politische Identität, die den jetzt in der DDR Verhafteten eben abgegangen sei. Im übrigen werden die Abtrünnigen in Pohls Erklärung nun wegen deren Aussagebereitschaft und Interviews in Zeitschriften auch verbal demontiert: als „die neuen 'Spiegel'/'Stern'/usw. Softpornodarsteller“.

Andreas Baader habe im übrigen mit seiner Aussage „Folter ist kein revolutionärer Kampfbegriff“ bereits viel früher vor der (damals insbesondere von Ulrike Meinhof propagierten) Vorstellung gewarnt, neue Revolutionäre zentral über die Empörung über die Haftbedingungen gewinnen zu können. Mit der Ankunft der Acht in der DDR im Jahr 1980 sei ein „umfassender praktischer Umbruch abgeschlossen“ und der damalige Irrweg der RAF „definitiv beendet“ worden, beteuert Pohl.

Daß dieser Umstand in der offiziellen, öffentlichen Auseinandersetzung bis heute kaum gewürdigt worden sei, vermutet der seit 1984 inhaftierte Helmut Pohl, liege daran, daß „diese Mitt-70er-Linke-Truppe heute überall drin sitzt und von ihren Jugendabenteuern auf der Spielwiese träumt“.

Eine, vorsichtig formuliert, gewagte Geschichtsinterpretation, zumal RAF und „Bewegung 2. Juni“ zu jeder Zeit - auch vor und nach der von Pohl beschriebenen Phase - Abgänge zu beklagen hatten: Erinnert sei nur an Bommi Baumann (1974), Hans-Joachim Klein (1977) oder Peter -Jürgen Boock (1979), die alle (fast) von Anfang an dabei gewesen waren. Niemand, der 1977 oder früher der RAF oder der „Bewegung 2. Juni“ angehört hat, ist heute noch im Untergrund aktiv. Fraglich scheint auch, ob alle, nach denen heute gefahndet wird, noch aktiv sind.

Wie das gesamte linke Spektrum, von Teilen der Grünen, über die PDS bis hin zu den Autonomen hat auch die Avantgarde -Truppe der RAF offenbar erhebliche Probleme, angesichts der „Siege des Kapitalsystems“ (die Pohl in Anführungsstriche setzt) Rezepte für die Zukunft auszugeben.

Die Konfrontation entwickle sich in Deutschland und Europa auf einer erweiterten Stufe, die Widersprüche hätten sich vervielfältigt und seien unüberschaubarer geworden, schreibt Pohl. Aber es ist nicht Ratlosigkeit allein, die sich in diesen Aussagen niederschlägt, sondern ebenso eine geradezu peinliche Angst, mit irgendwelchen politischen Vorgaben vorzupreschen, die mit dem Gefangenenkollektiv, der aktiven RAF oder dem Umfeld nicht abschließend diskutiert sind.

„Die ganze politisch-militante Linke muß jetzt auf eine neue Grundlage kommen“, heißt es da, eine Formulierung, die in ähnlich banaler Form bereits seit Jahren durch die Erklärungen verschiedener Gefangener geistert. Wie grotesk und lähmend sich die Furcht, auch mal ins Unreine zu diskutieren, mitunter auswirkt, zeigt folgende Passage:

„Es ist heute in bestimmter Hinsicht eine offene Situation. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie die Auseinandersetzung sich weiterentwickelt. So oder so entwickelt sie sich. Das steht nicht zur Debatte. Die Frage ist, welche Entwicklungsmöglichkeiten offen sind. Anders gesagt, welche realen Entwicklungen jetzt geschaffen werden.“

Geht es um eine Strategie nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, geht es um die bevorstehende Nord-Süd -Auseinandersetzung, die die Ost-West-Konfrontation ersetzt, oder geht es ganz konkret und pragmatisch für die RAF um die Frage des Ob und Wie des bewaffneten Kampfs? Die Antwort überläßt Pohl seinen Exegeten.

Halb belustigt - „mein Schwalmstädter Privatwitz“ - führt der Gefangene schließlich einen bemerkenswerten Gedanken zur „Gewaltdebatte“ ein. Im Unterschied nämlich zu den globalisierten gesellschaftlichen und internationalen Auseinandersetzungen, für die die Weichen bereits gestellt seien, sei „Gewalt in der revolutionären Politik“ immer „durch ihre politische Bestimmung eingegrenzt, die ganze Entwicklung politisch kontrolliert“.

Mit andern Worten: Die RAF kann ihren einsamen Krieg jederzeit aufgeben, wenn sie ihn als sinnlos erkennt. Ob dagegen die Weichenstellungen der vergangenen Wochen am Golf noch kontrollierbar sind, das erscheint in der Tat zweifelhaft. Wo Pohl Recht hat, hat er Recht.