Achtung: Schule frisch gewendet

■ Gestern begann die Schule in der DDR. Neue (West-) Lehrbücher, neue gute Vorsätze, die alten Lehrer - frisch gewendet

In der DDR gab es einen großen Knall“, ulkt das Ostberliner Kabarett Diestel, „da sprangen die Spatzen auf vor Schreck.“ Nun, da vieles verhallt ist, lassen sie sich langsam wieder nieder - „aber auf anderen Ästen.“ Über diesen Gag können längst nicht alle lachen in der DDR: In den Leitungspositionen hat sich nicht allzuviel verändert. In Ostberliner Lehrerkreisen geht man gar davon aus, daß noch die Hälfte aller Schulen in ihrer Stadt von denen geleitet werden, die diesen Posten auch schon vor der Wende inne hatten.

An der Erweiterten Oberschule „Carl von Ossietzky“ in Berlin-Pankow, einer Art gymnasialer Oberstufe nach West -Begriffen, ist dies nicht mehr der Fall. Aber ihr vorheriger Direktor Forner, der sein Amt auf eigenen Wunsch niederlegte, mußte nicht in eine niedrigere Gehaltsstufe absteigen oder gar zum Arbeitsamt gehen. Forner wurde Anfang Mai Leiter eines Landschulheims.

Forner war der Schulleiter, der mit einer Speakers-Corner für verhaltene Liberalisierung bei „Carl von Ossietzky“ gesorgt hatte. An dem Brett durften Schülerinnen und Schüler per Aushang ihre Meinung zu verschiedenen inner- und außerschulischen Fragen aushängen. Einige nahmen dieses Angebot vor zwei Jahren ernst und veröffentlichten ein Papier gegen die Militärparaden zu den Geburtstagsfeierlichkeiten der DDR. Das Säbelrasseln passe nicht mehr in die Zeit weltweiter Entspannung, war ihre Begründung. Als sie dieses Anliegen auch noch mit einer Unterschriftenliste verstärken wollten, griffen Staat und Staatssicherheit zu. Deren Draht zur Carl-von-Ossietzky -Schule war ohnehin kurz, absolvierten doch zahlreiche Kinder der SED-Nomenklatura dort ihr Abitur - zu dieser Zeit etwa der Sohn von Egon Krenz, damals noch Kronprinz von Erich Honecker. Vier Schüler wurden als Konsequenz dieser Affäre gefeuert.

Ihre Lehrer hatten damals geschwiegen, und das tun sie auch heute noch. „Es gab bis heute keine Diskussion über die Fehler der vergangenen Zeit“, beklagt etwa Lehrerin Rose Graupner (Name von der Redaktion geändert). Der alte Staatsbürgerkundelehrer wurde gestern, zum Beginn des neuen Schuljahres, nicht gesehen - er befindet sich aber ohnehin knapp unterhalb der Pensionsgrenze. Sein altes Fach heißt heute Gesellschaftskunde, und schon auf den Zeugnisurkunden des letzten Jahres wurde die alte Bezeichnung per Federstrich aus dem DDR-Schulalltag gestrichen. Die Geschichtslehrer wichen hilflos auf den Lehrstoff „Altertum“ aus. Was sollten sie anderes tun: Unter Geschichte war bis zuletzt vor allem die Historie der Arbeiterbewegung gefallen. Und das war nach der Wende nicht mehr opportun. Dabei hat der Lehrkörper der EOS Carl von Ossietzky, dreiviertel von ihnen waren Mitglied der Staatspartei, noch Glück. Weil an den Erweiterten Oberschulen nur die elfte und zwölfte Klasse ausgebildet wurden, drückt in diesem Schuljahr nur noch ein Jahrgang, der die alten Sprüche der alten Lehrer noch kennt, die Schulbank.

„Ich bin einfach ermüdet“, sagt Rose Graupner, „an echten Veränderungen ist kaum etwas gelaufen“. Es erfüllt sie mit Bitterkeit, daß die überzeugten Marxisten-Leninisten von einst jetzt nur still darauf hoffen, vom ehemaligen Klassenfeind möglichst schnell und reibungslos ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden.

Wie schnell manche mit den neuen Verhältnisen zurecht kommen, beweist die ehemalige Schulrätin Voß, treue Parteigängerin und in der Ostberliner Schul-Szenerie seit Jahren als „eiskalte“ Stalinistin gefürchtet. Die ehemalige Deutschlehrerin bekleidet heute das Amt der Suchtbeauftragten des (Ostberliner) Magistrats. Ein anderes Beispiel: Ihr Nachfolger auf dem Posten des Pankowers Schulrats sorgte in der alten DDR für die Einhaltung der ideologischen Richtlinien an Schulen.

Den Schülern mag das gestern egal gewesen sein. Eingepackt in westlich modischen Stoff, begann ihr Schuljahr zum ersten Mal nicht mit dem obligatorischen Fahnenappell der FDJ. Sie mußten dieses mal nicht die Jahreslosung des DDR -Bildungsministers über sich ergehen lassen, sondern dürfen nun eine Woche lang überlegen, welche Leistungskurse sie belegen wollen. Zumindest Vorschriften macht ihnen dabei keiner mehr.

Axel Kintzinger