Philharmonischer Friedensbeistand

■ Die Norddeutsche Philharmonie Rostock spielte am Sonntag unter Antony Beaumont anläßlich der Friedens- und Kulturtage

Vor einem Jahr noch wäre es viel bestaunte Sensation gewesen und hätte Honoratioren, Friedensbewegte, Musikfreunde und alte Kämpfer gleichermaßen zum massenhaften Erscheinen veranlaßt, vor 10 Monaten wären wohl die alten Kämpfer weggeblieben. Am letzten Sonntag war es schon so stinknormal, daß es niemanden aus seinem Sessel riß:

Rostock's Sinfonieorchester, die Norddeutsche Philharmonie, war zu Gast in Bremen und spielte auf zum Antikriegstag. Und sie spielte vor einem recht kleinen Haufen von friedensbewegten Musikfreunden, ergänzt durch die Berufskollegen vom bremischen Philharmonischen Orchester, die auch die Betreuung managten. Gerade groß genug war die versammelte Schar, um Veranstalter und vor allem die Gäste

nicht in Depressionen verfallen zu lassen. Was letztes Jahr beim Open-Air-Konzert der hiesigen Philharmoniker noch geglückt schien, die Verbindung zwischen Kunst und basisorienter Politik, am Sonntag ging's wohl daneben. Schade, doch die Zeitläufte haben sich geändert, was eigentlich weniger schade ist.

Die Friedensfreunde bedürfen wohl keines philharmonischen Beistandes mehr. Und die Honoratioren sind möglicherweise erschöpft von der rastlosen schwesterlichen Hilfe beim politischen und administrativen Aufbau der patenschaftsmäßig verbundenen Hansestadt Rostock und bedurften häuslicher Ruhe. Und die Musikfreunde haben kaum etwas von der Veranstaltung erfahren (in der nunmehr in Europa dominanten Wirtschaftsordnung kommt es

bekanntlich nicht auf die Qualität eines Produktes, sondern auf perfektes, zielgruppenorientiertes Marketing an).

So kam es, daß die Rostocker Musiker den Eindruck haben mußten, ihre Darbietungen verdienten auf dem Freien Markte nicht mehr Beachtung als andere Hervorbringungen ihrer dahinscheidenden Republik. Doch mit Trabi, orwo-color und Rotkäppchensekt darf man sie nicht gleichsetzen. Wenn der vollmundige Spruch der abgedankten Obrigkeit vom Weltniveau seine Berechtigung hat, dann hier: Rostocks Klangkörper ist so nah dran, wie es ein Orchester aus deutscher Provinz sein kann.

Antony Beaumont, Bremern als kompetenter Sachwalter der Musik des 20. Jahrhunderts vertraut, stellte ein dem Anlaß und

der historischen Situation angemessenes Programm zusammen. Beethovens Egmont-Overtüre träumte den Traum von der Befreiung, Bartoks „Tanzsuite“, zum 50. Jahrestag der Vereinigung der Städte O-Buda-Pest komponiert, legte die „multikulturellen“ Wurzeln der Nation durch Verknüpfung ungarischer, rumänischer und slowakischer Volkstöne frei und beweist, daß Vereinigung nicht Vereinheitlichung heißen muß.

Und Dvoraks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ begeistert sich am gelungenen Ausbruch aus der engen Welt der Provinz. Pendereckis „Threnody (Für die Opfer von Hiroshima)“ kämpft gegen das Vergessen. Gleichzeitig dokumentiert das Stück, daß - so der Dirigent - aus dem europäischen Osten auch neue, unerhörte

Töne kommen können.

Das Zuhören war genußreich. Erklang Egmont noch etwas verhangen (Beaumont bat um Verständnis, daß Beethoven sich damals Befreiung nur mit militärischen Klängen vorstellen konnte, was die Piccoloflöte doch recht verschreckte), so entfaltete das Orchester in der Tanzsuite doch recht ungefährdete, zuweilen angemessen ruppige Virtuosität. Dvoraks populistischer Reißer erhielt duch Beaumont und die Rostocker durchaus neue Qualitäten: wenig sentimentales Verweilen, geschärfte Konturen und krasse dynamische Kontraste (was an der durch Zuhörer wenig gedämpften Akustik gelegen haben mag), gaben der „Neuen Welt“ den unbekümmert naiven, zuweilen groben Charme früher Sinfonien des Meisters zurück.

Rostocks Philharmoniker zeigten sich als ausgeglichenes Ensemble mit schönen, manchmal allerdings zugedeckten Holzbläsern, zuverlässigem und selbstbewußtem Blech, mächtig lautem Schlagwerk und mit auch in heiklen Passagen äußerst wohlklingendem Streicherapparat, der besonders durch sein engagiertes Musizieren in Pendereckis Klage beeindruckte.

Das Publikum entfesselte zum Dank einen Beifallssturm, den auch ein vollbesetztes Haus kaum zustandegebracht hätte. Bleibt zu hoffen, daß dieses Ensemble sich so erhalten kann, damit auch wir es wiedersehen können (wiederhören werden wir sie auf jedenfall, Radio Bremen hat das Konzert dankenswerterweise mitgeschnitten). Mario Nitsch