Wie ein Axthieb

■ Mahler, Schnebel, Boulez, das Jugendorchester der EG und die Junge deutsche Philharmonie bei den Berliner Festwochen

Freitag, der 31. August in der Berliner Philharmonie. Mahlers Sechste, seine heftigste Symphonie ist in vollem Gang. Es spielt das Jugendorchester der EG unter James Judd. Die Musik ist zerfahren, verheddert und steigert sich. Ein Schlagzeuger stellt sich neben den rätselhaften großen Holzblock links hinten, der seit einer Stunde seiner Bestimmung harrt. Mit einem Taschentuch trocknet er sich nochmal die schweißnassen Hände. Dann nimmt er den Hammer ein hölzerner Vorschlaghammer, ein Meter lang - und legt ihn sich über die Schulter. Die Musik steigert sich noch weiter. Der Schlagzeuger muß sich fühlen wie ein Scharfrichter. James Judd gibt den Einsatz. „Dumpf, wie ein Axthieb“, steht in der Partitur. Der Schlag übertönt das 130köpfige Orchester. Er eröffnete einst eine ganz neue Perspektive für die E-Musik: die Emanzipation des Schlagzeugs vom Rest des Orchesters. Der Rest des Orchesters antwortet mit rasendem Entsetzen. Ein Drittel der Plätze in der Philharmonie ist frei. Es fehlt eine bestimmte Fraktion des Berliner Konzertpublikums. Die großgeblümten Senatorengattinnen und säuerlichen Oberfinanzdirektoren haben es vorgezogen, zu einem der größten Ereignisse der musikalischen Saison - so oft wird Mahlers Sechste nicht gespielt - nicht zu erscheinen. Danke!

Sonntag. Beim „Komponistenporträt Dieter Schnebel“ ist der Kammermusiksaal der Philharmonie halb besetzt. Von „Publikum“ im engeren Sinne kann nicht die Rede sein. Alle Anwesenden kommen aus der Branche, Hochschule der Künste, Presse, Kultursenat, Musik- und Musikwissenschaftsstudenten. So ist Schnebel nach dem Konzert wenigstens ein angemessener Applaus sicher.

Schnebels Urteil nach Kafka wird vom Ensemble Modern unter Ingo Metzmacher uraufgeführt. Schnebel hat das Stück 1959 gechrieben. Es ist bisher nie gespielt worden. Für das „Komponistenporträt“ hat Schnebel das Stück bearbeitet. Es nutzt den ganzen Raum des Kammermusiksaals, die Musik zerstreut und ballt sich. Die Musiker wandern durch die Zuschauerreihen. Das Geräusch der Schritte gehört zur Komposition. Sie rennen wie Georg in Kafkas Erzählung. Am Ende gibt es keinen Winkel mehr, wo nicht Musik ist. Georg läßt sich bei Kafka hinfallen, der Vater will es so. „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“, heißt Kafkas letzter Satz. Auch dies eines der größten musikalischen Ereignisse der Saison: Man muß das Stück live erleben, keine Klangkonserve könnte einen Eindruck davon geben, und man mußte 30 Jahre darauf warten.

Montag, 3. September in der Philharmonie, die wieder nicht voll ist. Auf das Berliner Konzertpublikum ist also Verlaß: Es hat verschlafen. Denn wann kriegt man schon mal Messiaens Chronochromie, BoulezNotations, Vareses Ameriques im Konzert zu hören? Nach diesem überwältigenden Konzert der Jungen deutschen Philharmonie unter der Leitung von Pierre Boulez selbst, ist allerdings klar, warum solche Stücke so selten aufgeführt werden. Ein Berufsorchester - und selbst wenn es die Berliner Philharmoniker wären - könnte sie nach den üblichen zwei drei Proben, die einem Reisedirigenten heute zugestanden werden, überhaupt nicht bewältigen: Sie sind zu schwer, immer noch zu triumphal anders und neu.

Auch Boulez hat sich in seinen Notations, die er am Samstag in einem Gesprächskonzert dem interessierten Publikum erläuterte, über eine alte Komposition gebeugt: die Notations 1-12 für Klavier von 1945. Die ersten vier davon hat er seit 1978 für großes Orchester bearbeitet. Es handelt sich nicht um einfache Instrumentierungen, sondern um Reflexionen der eigenen musikalischen Arbeit, Vergrößerungen, durch die er die Notations wie durch eine Lupe betrachtet. Die vierte Nation erzählt in extremer Verdichtung die Geschichte von der Emanzipation des Schlagzeugs, die Mahler einst durch seinen Hammerschlag einleitete. Anfangs setzt es nur Akzente, die losgelöst keinen Sinn machen, dann entwickelt es sich zum Rückgrat der Msuik, so daß der Rest des Orchesters nur noch Farbe gibt.

Die Tontraubenmelodien, die kompakten Holzbläsersätze, die rasanten Parallellinien von Marimba-, Xylophon und Glocken, das organisierte Chaos bei den Streichern in Messiaens Chronochromie, die unglaubliche Schlußsteigerung in Vareses Ameriques: das Konzert und die Musiker verdienten eine viel weitschweifigere Würdigung als hier möglich ist - aber hier ist eben nicht soviel Platz wie in der Philharmonie.

Zu Anfang des Konzerts, in Debussys Jeux allerdings, wirkte das Orchester noch unsicher. Die Holzbläsereinsätze waren ungenau, das Orchester klangfarblich ungleichmäßig. Die klangliche Homogenität, die für Debussy so wichtig und bei Berufsorchestern durch Routine oder Schmäh von allein gegeben ist, stellt für Jugendorchester ein Problem dar. Aber es war auch zu merken, daß die Musiker aufgeregt waren

-sogar Boulez soll ziemlich nervös gewesen sein. Am besten sind doch die Konzerte, die auch für die Musiker selbst ein Ereignis sind. Am Freitag tritt die Junge deutsche Philharmonie mit demselben Programm in der Alten Frankfurter Oper auf. Thierry Chervel