Flucht nach vorn

Die Leipziger Galerie Eigen+Art  ■ Von Andre Meier

Keiner soll mir mehr sagen, diese Revolution im Osten Deutschlands sei eine unblutige. Spätestens auf den DDR –Autobahnen zerplatzt der Mythos vom friedlichen Übergang. Auf dem Weg von Berlin nach Leipzig, von der deutschen Haupt – in die sächsische Heldenstadt, wurde mir deutlich von welch existentieller Bedeutung in einer gerade in die Freiheit entlassenen Gesellschaft die Wahl des Fahrzeugtyps sein kann: Neben einem nur leicht zerbeulten bayerischen Mittelklassewagen mit DDR-Kennzeichen, stand die eine Hälfte eines zweigeteilten Trabant 601, während der splitterige Rest zu Füßen der Männer lag, die über die Leiche seines Fahrers nur noch die Decke ziehen konnten. Drei mittelschwere Auffahrunfälle und vier ausgebrannte Autowracks folgten. Schließlich in der Messestadt angelangt, erschien mir die Begrüßungs-Werbung der Lufthansa „Leipzig steigt auf!“ nur noch als zynischer Kommentar zum großen Sterben auf den DDR-Straßen.

Leipzig, 2. September. Während Lothar de Maiziere Honeckers Erbe antritt und mit dem traditionellen Rundgang die Leipziger Herbstmesse eröffnet, zeigt nur ein paar Straßen weiter ein neunundzwanzigjähriger Sachse daß Risikobereitschaft und Selbstvertrauen nicht allein bundesdeutsche Unternehmertugenden sind. Gerd Harry Lybke, Chef der Leipziger Eigen+Art, eröffnet, in Anwesenheit des Künstlers und in den neuen Räumen seiner Galerie eine Ausstellung mit Arbeiten Günther Ueckers.

Lybke, Arbeitersohn aus der Leipziger Vorstadtsiedlung Meusdorf, war schon lange vor der Wende das Enfant terrible des DDR-Kulturbetriebs. Vor mehr als zwölf Jahren verließ er die Reihenhauswohnung seiner Eltern und zog ins Innere der Messestadt. Fortan tauchte er tief ein, in das, was man selbst in Leipzig die Szene nennt. Doch auch dort hielt man sich an die Spielregeln des realsozialistischen Systems und versuchte, das Beste daraus zu machen. So wurde Lybke nach seinem Wehrdienst „Instrukteur für Jugendklubs“ beim Rat der Stadt. Der gelernte Anlagenmonteur hatte nun die Arbeit von mehr als einem Dutzend FDJ-Jugendklubs zu koordinieren und zu überwachen. Eine die Jugendarbeit des Rates bewertende Staatssicherheitskommission registrierte bald verstärkten Besucherverkehr in den zentralverwalteten Freizeitobjekten und kam zu dem Schluß, daß Lybkes unkonventionelle Programmpolitik die Grenzen des für die kommunistische Erziehung Notwendigen überschritten habe. Der Kulturarbeiter Lybke wurde entlassen und jobbte als Würstchenverkäufer, um seinen Unterhalt und neue Projekte zu finanzieren. In seiner, inzwischen eigenen, Wohnung am Körnerplatz 8 eröffnete Lybke am 10. April 1983 seine erste inoffizielle Ausstellung. Gezeigt wurden die Arbeiten der „Neuen Unkonkreten“. Das waren Freunde und Bekannte, eher Dilettanten denn Künstler. 16 weitere Ausstellungen folgten, bis schließlich der ständige Besucherverkehr selbst der Frohnatur Lybke das Wohnen vergällte und er sich nach einem neuen Ort für die Kunstpräsentation umsehen mußte.

Zusammen mit dem jetzt im Westen arbeitenden Fotografen Erasmus Schrötter zog er, als Bausachverständiger getarnt, durch Leipzig und stieß im ruinösen Stadtteil Connewitz auf die leerstehende Werkstatt der Firma Rohrer & Klinger. Der 50 Quadratmeter große Raum im ersten Stock eines Hinterhofhauses wurde über den im Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) organisierten und damit juristisch legitimierten Akos Nowaky als Atelier angemietet und neues Ausstellungsdomizil Lybkes. Um den Behörden keinen Vorwand zum Eingreifen zu liefern – schließlich oblag auch das Ausstellen von Kunst (Kirchenräume ausgenommen) dem Staat und den ihn tragenden Organisationen – erklärte man die Galerie zur Werkstatt. So konnten sich im monatlichen Wechsel die jeweils ausstellenden Künstler einmieten und die Besucher als ihre Gäste empfangen. Am 25. Oktober 1985 wurde dort unter anderem mit Arbeiten von Lutz Dammbeck, Klaus Elle und Hans-Hendrik Grimmling die erste Ausstellung eröffnet. Bis zur Uecker-Exposition im neuen Haus der Eigen+Art erlebte die Galerie in der Fritz-Austel-Straße 31 mehr als fünfzig Ausstellungen. Das Namensregister der Ausstellenden rechtfertigt im nachhinein die anfangs in der Szene nicht unumstrittene autoritäre Unternehmensführung Lybkes. Hier stellten viele der innovativsten Künstler des Landes aus, unabhängig davon ob im staatlichen Künstlerverband organisiert oder dem „Untergrund“ verpflichtet. (Was meist kaum mehr bedeutete, als nicht Mitglied des VBK zu sein.)

Kurz vor dem Untergang des alten Systems gelang Lybke sogar noch der Aufstieg in das Establishment. Er wurde Kandidat des VBK und die einzige Kunstzeitschrift des Landes, die 'Bildende Kunst' würdigte seine Aktivitäten. Ein Umstand, der vor allem die lokalen Parteifunktionäre irritierte, denen das Unternehmen ohnehin ein Dorn im Auge war. Die SED –Bezirksleitung versuchte, die Auslieferung der Zeitschrift zu verhindern, wurde aber noch rechtzeitig vom Kulturministerium zurückgepfiffen. Dort hatte Lybke in Person des späteren Modrow-Ministers und PDS –Geschäftsführers Keller einen Fürsprecher. Auch jetzt, obwohl kaum mehr von existentieller Bedeutung, ist die Lobby besetzt. Als Staatssekretärin im CDU-Ministerium amtiert mit Gabriele Muschter die Autorin des damals umstrittenen Zeitschriftenartikels. Schon 1987 wünschte die DDR –Kunsthistorikerin der Galerie in dem von Karim Saab herausgegebenen Leipziger-Untergrundheft 'Anschlag' „ein langes anti-instrumental verdichtetes Leben“. Ein Wunsch, dessen Erfüllung zwar nicht mehr an politische, dafür aber zunehmend an ökonomischen Grenzen stößt.

Mit der Uecker-Ausstellung geht Lybke in die Offensive. Die Eigen+Art ist in das Zentrum der Stadt gezogen und verfügt nun in einem zwar ramponierten, doch herrschaftlichen Haus in der Zentralstraße über 260 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Damit vollzieht Lybke auch räumlich den Schnitt, der seine Arbeit bereits seit der Wende bestimmte. Die Szene hat durch den Verlust ihres alten Widerparts ihren inneren Zusammenhalt verloren. So kann es nicht verwundern, wenn die einstigen Multiplikatoren nun stärker als bisher auf die Liquidität ihrer Unternehmen achten. Mit der Eröffnung der Galerie im Zentrum der Stadt, in der Nachbarschaft von Thomaskirche und Schauspielhaus, stellt sich die Eigen+Art der Konkurrenz. Denn Uecker in der Eigen+Art heißt auch: Kein Rühren im eigenen Brei, sondern der Griff in die Schubläden der westlichen Hochkunst. Ob Lybke nur ein Zeichen oder auf die den DDR-Markt beherrschende West-Produkte-Euphorie setzt, bleibt unklar. Doch wird kaum ein Leipziger Rechtsanwalt oder Zahnarzt seinen Wandschmuck wechseln, bevor nicht wenigstens der BMW in der Garage steht und auch die ehemaligen VEB- und jetzigen GmbH-Direktoren haben, das zeigt die Messe, andere Sorgen, als den Kantinen-Lenin gegen einen Lybke-Uecker zu tauschen.

Das Uecker-Bild in der DDR wird bestimmt durch seine, während der 1986er Kunst-aus-der-BRD-Ausstellung „Positionen“ in Ost-Berlin und Dresden gezeigten, Nagelbilder. In Leipzig präsentiert der Künstler nun Objekte, Installationen und Videos die vor allem mit diesem Klischee brechen wollen. Der 1930 in Mecklenburg geborene und jetzt in Düsseldorf lehrende Uecker stellt frühere, vor allem unter dem Eindruck der Tschernobyl-Katastrophe entstandene Werke räumlich und thematisch in Bezug zu jenen, die sich mit der jüngsten DDR-Geschichte und der Stadt Leipzig befassen. Doch gerade die wirken ausgesprochen dürftig, denn Uecker versucht, leider nicht einmal formal überzeugend, diesen widersprüchlichen Prozeß, landläufig „Revolution“ genannt, auf einen Punkt zu bringen. Bei der Suche nach den Archetypen des Aufruhrs macht er leider nicht vor den totgelaufenen Wort- und Bildhülsen halt, die vielleicht bei ihm, jedoch kaum noch bei den Leipziger Besuchern als Synonyme existentieller Bedrohung funktionieren.

„Angstkästen“ nannte Uecker zwei nebeneinander in Kopfhöhe befestigte Holzkästen, die von Nägeln durchbohrt, ein Spiegel bzw. ein inzwischen zum Postkartenmotiv inflationiertes Montagsdemo-Foto rahmen. In einem anderen der drei großen Ausstellungsräume der Eigen+Art, hat Uecker mit der Sorgfalt eines Bühnenbildstudenten die Berliner Mauer hochgezogen. Zwischen zwei aus Leinwand und Pappe geformten Schutzwall-Segmenten steht ein überdimensionaler Besen mit Nagelborsten, der – wie sollte es bei dem Titel Fall 1990 anders sein – des Bauwerks Ende anmahnt. Uecker läuft hier Gefahr, genau den Fehler zu begehen, den er seinen DDR-Kollegen vorwirft. Denn auch seine Kunst ist, wenn sie wie hier zu einer künstlerisch fragwürdigen Geschichtsillustration verkommt, ein „Schmarren“.

Die Ausstellung ist noch bis zum 29.September in der Galerie Eigen+Art, Zentralstraße 7/9 zu sehen. Öffnungszeiten: Di-Fr 14-18 Uhr, Sa 11-14 Uhr