Die Stimme des Herrn X

■ Linie 1 fährt ab heute wieder durch - leider

Er wird mir fehlen. Unnachahmlich, unbeschreiblich fast, wie er „Autobusersatzverkehr“ aussprach: so elegant, so distinguiert, so professionell und so antiquiert, mit ganz besonderer Betonung auf den ersten beiden Silben. Er löste die üblichen BVG-Raunzer ab, die in den ersten unseligen Wochen die Ansage genervt in die Mikros bellten oder Gipfel des Grauens - plötzlich mit donnernder Lautstärke im U-Bahn-Waggon losnuschelten. Dann eines Tages: seine Stimme vom Band. Wie früher im sonntäglichen Gottesdienst, als ich vor lauter Langeweile die ganze Messe mitsprach, sagte ich es manchen Morgen und manche Nacht synchron mit ihm: „U 1 zwischen Hallesches Tor und Gleisdreieck kein Zugverkehr. Bitte benutzen Sie ab Möckernbrücke den eingerichteten Autobusersatzverkehr. Beachten Sie die Hinweise in der Vorhalle.“ An manchen Tagen hatte ich bis zu achtmal das Vergnügen mit ihm: am Morgen zweimal an Mehringdamm und Möckernbrücke auf dem Weg zur Arbeit, zweimal von der Arbeit nach Hause und dann noch viermal in der Nacht. Ich bin fast sicher, daß er der gelegentliche Ansager der Eisenacher Straße ist. Wie in keiner Station sonst in ganz Berlin spricht jener die Ansage, so daß alle Fahrgäste plötzlich innehalten und aufhorchen - so sanft, so schmelzend und ein bißchen obszön, daß mann (!) und frau mitten im Alltag plötzlich auf ganz unkeusche Gedanken kommt. Einen Blick auf ihn zu werfen, ist mir nie gelungen, immer rauschte die Bahn zu schnell an seinem Häuschen vorbei. Ab heute ist es aus mit dem „Autobusersatzverkehr“. Die U 1 fährt wieder durch, und mein Sommerschwarm wird bestimmt gelöscht - ein Jammer.

Daniela Reinsch