Weiße Magie im Feuilleton

Zu Siegfried Kracauers „Aufsätzen 1915—1965“  ■ Von Michael Bienert

Die Philosophie Siegfried Kracauers trägt märchenhafte Züge, aber sich in ihr zurechtzufinden, ist kein Kinderspiel. Zu unübersichtlich ist das Werk, das Kracauer hinterlassen hat. Die Gesamtbibliographie von Thomas Y. Levin listet zum ersten Mal über zweitausend Zeitungsartikel und Aufsätze auf, das eigentliche Hauptwerk des Autors. Die Philosophie Kracauers schimmert durch alle diese Texte hindurch, gleichviel ob er als Flaneur, Soziologe, Architekt, Filmtheoretiker, Literaturkritiker oder Prosaschriftsteller in Erscheinung tritt. Über alle möglichen Themen hat Kracauer geschrieben, aller möglichen publizistischen Genres hat er sich bedient — nur einen Abriß der Metaphysik, die seinen Äußerungen über empirische Gegenstände zugrunde liegt, hat er nicht hinterlassen. Manchmal, in Aufsätzen, die so unverdächtige Titel tragen wie Die Reise und der Tanz oder Die Photographie, treten die metaphysischen Grundlinien seines Denkens blitzartig hervor, ohne sich jedoch zu einem philosophischen System von Begriffen und Abteilungen zusammenzuschließen.

Der antisystematische Zug ist die Konsequenz einer Grundüberzeugung, die Kracauer einmal seinem Romanhelden Ginster in den Mund legt. Dessen Jugendfreund Otto hat sich eine detektivische Methode der Textinterpretation ausgedacht, die darauf beruht, aus unscheinbaren Spuren die wahren Sachverhalte zu rekonstruieren. Das detektivische Verfahren begeistert Ginster, nicht aber die Zielsetzung des Philosophen. Ihn interessiert weder die Begründung von Wissenschaftshypothesen noch der Aufweis einer letzten, ursprünglichen Wahrheit. „Kolumbus“, erklärt er dem verdutzten Freund, „mußte nach seiner Theorie in Indien landen; er entdeckte Amerika. Nicht anders, meine ich, hätte sich jede Hypothese zu bewähren. Eine Hypothese ist nur unter der Bedingung tauglich, daß sie das beabsichtigte Ziel verfehlt, um ein anderes, unbekanntes zu erreichen.“

Kracauer ist der Überlegung seiner Romanfigur gefolgt. Anhand der drei neuen Bände mit Aufsätzen aus fünf Jahrzehnten läßt sich sein Denkweg erstmals im chronologischen Zusammenhang nachvollziehen. Herausgegeben hat sie Inka Mülder- Bach, die mit ihrer Dissertation den bedeutendsten Beitrag zur Literatur über Kracauer vorzuweisen hat. Die meisten der von ihr ausgewählten Texte sind zwischen 1921 und 1933, als Kracauer dem Redaktionsverband der 'Frankfurter Zeitung‘ angehörte, erschienen; die wichtigsten waren durch die Wiederveröffentlichung in den Auswahlbänden Das Ornament der Masse (1933) und Straßen in Berlin und anderswo (1964) schon seit längerem bekannt. Kracauer hatte sie noch selbst herausgegeben und durch die achronologische Anordnung der Texte die Spuren ihrer Entstehungsgeschichte verwischt. Fehlinterpretationen waren die Folge, denn die genaue Bedeutung wiederkehrender Motive Kracauers ist oft nur anzugeben, wenn sie der entsprechenden Etappe seines Denkens zugeordnet werden.

Die neuen Aufsatzbände sind Teil der auf acht Bände angelegten Werkausgabe, von der zwischen 1971 und 1976 sechs Bände mit den Romanen und großen Monographien erschienen sind. Es sah so aus, als sollte es bei diesem Torso aus den großen Bruchstücken eines weit verzweigten Denkens bleiben; erst jetzt, nach 14jähriger Pause, kommt mit den Aufsätzen das Herzstück der Ausgabe heraus. Im Nebeneinander von Essays, Buchkritiken und kleinen Prosaarbeiten treten Kontinuität und Verwandlung der wichtigsten Denkmotive deutlicher hervor als bisher. Ausgespart sind nur die Filmkritiken, die im abschließenden Band der Werkausgabe vorgelegt werden sollen.

Von Anfang an ist Kracauers Denken mehr dem Alltäglichen als den philosophischen Begriffen zugewandt. Die frühesten, in der Zeit des Ersten Weltkriegs entstandenen Aufsätze enthalten subtile psychologische Analysen, so zur Kriegsbegeisterung oder zur Chemie zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie bewegen sich in einer eigentümlichen Zwischensphäre zwischen konkreter Erfahrung und abstrakter Reflexion; philosophische Phänomenbeschreibungen, die Gesetzlichkeiten herausschälen, ohne die Strenge begrifflicher Ableitungen anzustreben. Darin folgen sie dem Denkstil von Kracauers wichtigstem Lehrer, Georg Simmel.

Das Hauptthema des Psychologen Kracauer ist die Mentalität des modernen Massenmenschen, der am Geltungsverlust traditoneller Weltbilder und an der kapitalistischen Alltagswelt leidet. Kriegsbegeisterung und Faschismus, religiöse Erneuerungsbewegungen und Erscheinungen der Massenkultur deutet er als Versuche, den Sinnentzug und die emotionale Leere zu kompensieren. Die Kritik an ideologischen Scheinlösungen, die die gesellschaftlichen Wurzeln der seelischen Verödung unangetastet lassen, ist bereits im ersten Aufsatz aus dem Jahr 1915 vorgebildet und setzt sich ungebrochen bis ins Spätwerk fort.

Seit dem Ende der zwanziger Jahre bedient sich Kracauer materialistischer Kategorien und definiert sich selbst gelegentlich als dialektischen Marxisten. Vor dem Hintergrund des heraufziehenden Faschismus fordert er 1931 von den Intellektuellen „Denkübungen zum Zwecke der Destruktion“: radikale Ideologiekritik und schonungslose Aufklärung über den Zustand der Lebenswelt, mit dem Ziel, den „Umzug in eine Gesellschaftsordnung“ vorzubereiten. Insgeheim zweifelt Kracauer jedoch zu diesem Zeitpunkt schon daran, ob mit den Deutschen überhaupt eine Revolution zu machen ist; zu depremierend sind die Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Kracauer auf seinen „soziologischen Expeditionen“ in den Alltag der Weimarer Republik gewinnt. Er erkennt früher als die meisten Marxisten, daß der Faschismus nicht nur aus der aktuellen ökonomischen Situation zu erklären ist. Kracauers im amerikanischen Exil entstandene Geschichte des deutschen Films vor 1933, Von Caligari zu Hitler, versucht rückblickend jene psychologischen Dispositionen aufzuzeigen, die dem Nationalsozialismus zum Durchbruch verholfen haben.

Kracauer war resistent gegen jeden dogmatischen Marxismus; er zitierte gerne den Satz von Marx, er sei selber kein Marxist. Er knüpft unmittelbar an den Ursprungsimpuls des Marxismus an: dem Leiden am Kapitalismus. Die Aufgabe, die Kracauer in den dreißiger Jahren dem Intellektuellen stellt, ist der Aufweis der „Konstruktion“ und der „Konstruktionsfehler“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Da die gesellschaftliche Realität sich wandelt, ist diese Aufgabe immer wieder neu zu leisten. Kracauers materialistische Analysen, in denen die „kleinen Katastrophen“ im Alltagsleben und die Ideologiebildung im Kapitalismus durchsichtig werden, sind noch immer eine fesselnde Lektüre und ein Maßstab von bleibendem Wert.

Der Marxismus ist für Kracauer keine Weltanschauung, sondern ein „Instrument weißer Magie“, das heißt: Er steht im Dienst einer Weltsicht, die nicht anders als metaphysisch genannt werden kann. Bis Mitte der zwanziger Jahre hat sich Kracauer intensiv mit theologischer Literatur befaßt, selbst umgetrieben vom „Leiden am Mangel eines hohen Sinns in der Welt“. Seine spätere Haltung ist die eines Philosophen, der auf der Schwelle zur Metaphysik verweilt. Er wendet ihr den Rücken zu und blickt auf die profane Welt zurück, in die er verstoßen wurde. Seine Skepsis verbietet ihm Aussagen über ein Leben jenseits der vorgefundenen Wirklichkeit, aber er bleibt auf der Schwelle stehen, denn von hier aus klärt sich der Blick auf die Welt. Von dieser „exterritorialen“ Position aus gelingt es Kracauer, eine stichhaltige Kritik an fast allen innerweltlichen Interpretationen der Wirklichkeit zu üben, ohne einer von ihnen zu verfallen.

„Der Prozeß der Geschichte wird von der schwachen und fernen Vernunft gegen die Naturmächte ausgefochten, die in den Mythen Erde und Himmel beherrschten“, heißt es 1927 in Kracauers geschichtsphilosophischem Abriß Das Ornament der Masse. Vom Intellektuellen fordert er das hemmungslose Eintreten für die Vernunft, die Zerstörung aller natürlichen und mythischen Bestände, um die Ankunft eines Menschen vorbereiten zu helfen, „der aus der Vernunft ist“. Solche Thesen lösen heute mit Sicherheit Kopfschütteln aus; es sei denn, man macht sich wirklich klar, was Kracauer mit „Natur“ und „Vernunft“ meint. Er rechnet nämlich auch die moderne Gesellschaft noch zur „Natur“, die instrumentelle Vernunft zum „Mythos“. Nicht die Vernunft der Technokraten soll sich durchsetzen, sondern die Vernunft der Märchen, die Vernunft Kafkas, auf die sich Kracauer immer wieder bezieht, um den Gegenpol des mythischen Denkens zu bezeichnen. Im Märchen erscheint die Welt als von mythischen Mächten verzaubert, über die der Schwache, aber Gerechte siegt. Kafkas Welt ist, wie Kracauer schreibt, „die Matrize des Märchens“: Er schildert die moderne Welt als von dämonischen Mächten beherrscht, in deren Fallschlingen seine Helden scheitern. Auch Kracauers eigene Prosa stellt die Wirklichkeit so dar, wie sie sich gibt, wenn der ideologische Schleier gelüftet wird: als verwunschene, windschief zusammengesetzte, als verkehrte Welt. Sein sperriger Prosastil verfremdet das Beschriebene zur Kenntlichkeit.

„Weiße Magie“, in der Kracauer zeitlebens die Aufgabe der Kunst gesehen hat, ist Aufklärung über die Wirklichkeit, Zerstörung des mythischen Denkens, das die verwunschene Welt zur besten aller möglichen verklärt. Sie ist unerbittlich gegen das Allgemeine, die „Konstruktion“ der Gesellschaft, aber zärtlich gegen das Einzelne. Das ganze Spätwerk Kracauers kreist um die Frage, wie wir, verblendet durch Ideologien, die „Erfahrung von Dingen in ihrer ganzen Konkretheit“ wiedergewinnen können; wie wir übersehene „Dimensionen von Realität“ wiederfinden, in denen wir uns beheimaten können, auch wenn wir vom Wissen um die „letzten Dinge“ abgeschnitten sind.

In den Märchenhelden, in Kafka, Chaplin und Buster Keaton erkennt der Aufklärer Kracauer die besten Anwälte der Vernunft. In ihrem Treiben, das die Welt nicht ver-, sondern entzaubert, hat er sich schon in den zwanziger Jahren gespiegelt:

„Tiefste Bedeutung des Clowntums: die Akzente aufzuheben, die wir als Sebstverständlichkeit hinnehmen, und die Hierarchie der Werte in Frage zu ziehen, der wir im Alltag uns unterwerfen. Gerade das Wichtigste gilt dem Clown als unwichtig, und das Unwichtige schwillt vor seinen Augen so riesengroß an, daß er es nicht mehr zu übersehen vermag... Während die angebliche Hauptsache von allen geglaubt und gepriesen wird, nimmt die echte Hauptsache, auf die unser Leben wirklich bezogen ist, in der Welt den Charakter der Unscheinbarkeit an, der niemand so leicht Beachtung schenkt. Diese um jener willen zu entthronen, ist daher eine Aufgabe, deren Bewältigung mitten in die Melancholie hineinführt, wenn sie nicht gerade die Komik heraufbeschwört.“

Siegfried Kracauer: „Schriften Band 5, Aufsätze 1915—1965“, hgg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt (Suhrkamp) 1990, drei Bände, 1.250 Seiten, 114 DM

Thomas Y. Lewin: „Siegfried Kracauer. Eine Bibliographie seiner Schriften“, Deutsches Literaturarchiv — Verzeichnisse — Berichte — Informationen 14, Marbach 1989, 404 Seiten, 27 Abb., 64 DM.