1948: Giftgas-Entsorgung ins Meer?

■ Seit Ende des 2. Weltkrieges erfahren in Munitionstransporten: Midgard

In der Mythenwelt der alten Germanen ist Midgard die Seeschlange, die am Weltenende alles Lebendige vertilgt. Die Midgard Deutsche Seehafen-Aktiengesellschaft, die ab Donnerstag in Nordenham die Granaten mit dem US-Giftgas umschlägt, führt die blaue Schlange im Wappen. Von Kaufleuten und Bankiers 1905 gegründet, gehört die Midgard heute zur bundeseigenen VEBA.

Obwohl im öffentlichen Eigentum, gilt das Betriebsgelände der Midgard als Privathafen. Im Unterschied zu allen anderen Häfen Europas ist er nicht öffentlich zugänglich: Von Zäunen umgeben, wird der Hafen von Wachmännern kontrolliert. Wenn an der Pier Munition verladen wird, kommt bewaffnete US-Militärpolizei hinzu. Wenn Personal knapp ist (Midgard beschäftigt 300 Mitarbeiter), können sich Schüler mit einer „Muni- Schicht“ ihr Taschengeld aufbessern.

Im Hafen von Nordenham schlägt die Midgard eine bunte Produktpalette um: Erz, Mineralöl, Tropenholz, Düngemittel. Weniger als zehn Prozent des Umschlags bestehe aus Munition für die US-Army, sagt ein Firmensprecher. Für die Army sei Nordenham der einzige europäische Hafen, wo sie Munition umschlägt — und das schon seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Überlagerte Geschosse aus den europäischen Depots würden in die USA zurückgeführt und durch frische Munition ersetzt. Die Transporte kommen in etwa vierwöchigem Rhythmus vom US- Hafen Sunny-Point. Über Züge und mit Binnenschiffen werden die Güter in die süddeutschen US- Depots weitertransportiert. Führen die Binnenschiffe drei blaue Kegel am Mast, dann ist ihr Inhalt hochexplosiv, zwei blaue Kegel signalisieren Giftgas.

Das Giftgas, das in den kommenden Tagen aus der Pfalz nach Nordenham rollt, ist zwischen 1958 und 1967 über den Nordenhamer Midgardhafen ins Land gekommen. Das bestätigte am vergangenen Mittwoch der US-Presseoffizier Jim Boyle. Und schon im Jahr 1948 wurde dort Giftgas verladen. Der „Amtliche Anzeiger für den Kreis Wesermarsch“, herausgegegeben unter der Kontrolle der US-Militärregierung, wies die Bevölkerung damals am 10. Juli an, auf Sirenensignale zu achten. Wenn die Sirene ertöne, sollten die Nordenhamer in ein stadtbekanntes Versammlungslokal eilen, von dort würden sie mit Bussen evakuiert. Über die Herkunft des Giftgases gibt der „Amtliche Anzeiger“ keine Auskunft. US-Presseoffizier Jim Boyle vermutet, daß es sich um Bestände der deutschen Wehrmacht handelte, die über Nordenham abtransportiert wurden. Wohin das Giftgas gebracht wurde, wußte er nicht. Unter älteren Bürgern des Städtchens hält sich die Vermutung, daß die Wehrmachts-Kampfstoffe einfach in die Nordsee versenkt wurden. mw