Sinnlosigkeit der Existenz

■ Franz Jungs autobiographische Prosa

„Das versteht niemand, es hört auch niemand hin.“ (Franz Jung: Das Jahr ohne Gnade)

Seit Franz Jung nicht gerade populär, aber doch etwas bekannter wird, droht ihm das traurige Schicksal, hinter der eigenen Legende zu verschwinden. Selbst Fritz J. Raddatz, der als Rowohltlektor Jung zu dessen Lebzeiten abblitzen ließ, feiert ihn mittlerweile mit Phrasen und Gemeinplätzen — das Nacherzählten von Jung-Anekdoten scheint chic zu werden. Material zur Legendenbildung liefert Franz Jungs Leben (1888-1963) in der Tat reichlich: Autor heftiger expressionistischer Prosa, Börsenjournalist und Dadaist, militanter Revolutionär, Rätekommunist und Schiffsentführer, Trinker und „kühne, vor nichts zurückschreckende Abenteuernatur“ (George Grosz) heißen einige der Schlagwörter, die Stationen des Lebensweges dieses rabiaten Revolteurs markieren.

Ihn selbst haben bei Blicken auf sein Leben die spektakulären Abenteuer wenig interessiert. In seiner 1961 veröffentlichten Autobiographie „Der Weg nach unten“, „einem der wichtigsten Bücher, die nach dem Krieg hier erschienen sind“ (Michael Rohrwasser), wehrt sich Jung rüde gegen den sensationslüsternen Blick der Voyeure: „Ich habe nicht die Absicht, nur ein paar Abenteuer zu erzählen, auch allgemein nicht in dieser Arbeit, die mehr auf die irrenden Aspekte eines Lebens abgestellt ist.“ In einem Brief schreibt er 1957, daß er „autobiographische Daten“ nur „in der Nebensache, als Untergrund, als Atmosphäre“ benutzen will — „interessiert daran bin ich nur zu erklären, warum alles falsch war, warum ich mich nicht entwickeln konnte, warum diese Zeit und diese Gesellschaft (...) zu Ende geht, warum es mir nicht gelungen ist und gelingen konnte, sie vorher zu zerstören.“

Sein autobiographisches Schreiben dient vor allem der Selbstverständigung — ein quälender Prozess, der ihn spätestens seit 1945 bis an sein Lebensende beschäftigt: „Ich arbeite sehr viel, allerdings weniger zu einem neuen Aufstieg als eher unter einem übermächtigen Druck von Erinnerungen und Scham, aufzuarbeiten und Nachlese zu halten“ heißt es 1947 in einem Brief. „Ich bin praktisch am Ende, und wenn ich physisch weiterzuleben gezwungen bin, so bedarf es noch einer großen Kraftanstrengung, diesem Leben auch einen neuen Inhalt zu geben.“ Er schreibe „nicht für einen Leser, sondern nur für mich und zwar ausschließlich gegen mich“, notiert er 1959 während der Arbeit an der Autobiographie.

Mehr noch als seine Autobiographie sind die autobiographischen Texte des jetzt erschienenen 12. Bandes der Nautilus-Werkausgabe, zwei Erzählungen und ein Roman, tastende Versuche solcher Selbstverständigung. Jung erzählt nicht, er grübelt. Das kreist immer wieder um ein zentrales Thema seines Lebens: die brüchigen Bindungen, „das Warum der Konflikte, der übergroßen Schwierigkeiten, die sich einem freudesteigernden Ausgleich der Individualitäten entgegenstellen“, die existenzielle Einsamkeit des Menschen: „Das ist das Sinnlose des Todes, er macht den Menschen so einsam. (...) Der Mensch, der sein Leben lang einsam leben muß, bleibt auch einsam im Tode.“

Jung hält äußerst nüchtern, sozusagen ohne die Stimme zu heben, die Augenblicke der Verzweifelung fest: „Es war überhaupt nichts mehr vorhanden als das Gefühl einer völligen Leere, die vollkommene Sinnlosigkeit der Existenz.“ Dieses Gefühl des Bankrotts zieht sich als immer wieder erfahrener Endpunkt durch die autobiographischen Aufzeichnungen. Jung kokettiert nicht mit der Verzweiflung, sie wird nicht inszeniert, sondern trocken festgestellt.

„Das Jahr ohne Gnade“, ein kurzer Roman, wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Der 1946 geschriebene Text ist indirekt autobiographisch: Jung erzählt das Leben seiner Tochter Dagny von ihrem Ende her — dem Tod in der psychiatrischen Abteilung eines Wiener Krankenhauses im März 1945, für Jung ein Euthanasiemord. Der Roman ist der Versuch, die Vorgeschichte eines psychischen Zusammenbruchs zu rekonstruieren, ein Stück kühler, unsentimentaler Trauerarbeit. Jung fragt nach seiner Mitschuld am Unglück der Tochter: „Der Vater hatte teilnahmslos zugesehen ... Er war eher bemüht, Distanz zu halten, eine Wand aufzurichten, gegen die das Kind nicht hindurchzustoßen vermocht hatte. ... Sie hatte keine Aussicht, diesen Wall, der ihn umgab, zu durchbrechen.“

Ungeheuer eindringlich zeigt der Roman das langsame Abgleiten der Protagonistin, das Aufsteigen der inneren Panik, das Erdrücktwerden. Der Hintergrund bleibt verschwommen. Der Roman liefert ein zynisches Bild des Alltags, der Mentalität in faschistischen Deutschland, eine Melange aus Gleichgültigkeit, Angst, Berechnung und Stumpfheit, ein großer Bluff, für den Jung nur einige höhnische Kommentare übrig hat. Die Bedrohung, die Dagny einschnürt, bleibt ungreifbar — eine namenlose Macht, „das regime“ streckt die Hand nach ihr aus, belauert und ermordet sie am Ende. Der Terror ist gesichtslos — etwas zwischen Kafkas Angstmaschinerien und den zum Staat gewordenen Paranoiagestalten des Anton Wenzel Groß. Zu einer ebenso unwirklichen, gespenstischen Kulisse wird das zerstörte Wien des letzten Kriegsjahrs, in dem Dagny umherirrt, eine Endzeitlandschaft, die wie ein seltsames Echo des seelischen Zusammenbruchs Dagnys wirkt.

Es fällt auf, wie sehr die von Jung erzählte Verzweiflung der Tochter dem gleicht, was er in anderen Texten über sich geschrieben hat. Besonders deutlich wird diese frappierende Parallelisierung in der Beschreibung der wirren Liebesbeziehungen Dagnys — man fühlt sich unwillkürlich an Jungs frühe expressionistische Prosa erinnert, in der er seine eigenen Liebeskatastrophen zu verarbeiten suchte: Mißverständnisse, abrupt umkippende Stimmungen, ein wankender Boden, der ständig einzubrechen droht, hysterische Ausbrüche, gefolgt von „völliger Leere, der Abgrund, in den sie beide sogleich stürzen werden“. Jung schreibt hier unverkennbar nicht nur über die Qualen der Tochter, es geht immer auch um seine eigenen Grunderfahrungen. Auch das Gegenbild dieser erstickenden Isolation ähnelt sich — was für Jung selbst die „Gemeinschaft“, die utopische „Menschenheimat“ ist, wird in seiner Erzählung für die Tochter das ersehnte „Heim“: Hier schreibt ein Mann darüber, was er für die Sehnsucht einer unglücklichen Frau hält. Während er, der Revolutionär, von der kommunistischen „Menschengemeinschaft“ träumt, läßt er seine Tochter sich nach der Familienidylle verzehren. Der Versuch „unter dem erschütternden Eindruck der Dagny Katastrophe“ Leben und Streben seiner Tochter zu verstehen, wird zu einem Selbstgespräch — noch einmal werden die alten Schmerzen und Sehnsüchte festgehalten, das Leben der Tochter wird gelesen als Variation des eigenen Lebensthemas.

Auch die ebenfalls 1946 geschriebene Erzählung „Sylvia“ erscheint in diesem Band zum ersten Mal. Jung verarbeitet hier seine schwierige Beziehung zu einer Budapester Nachtklubtänzerin, die nach dem Krieg zu einer obskuren katholischen Fanatikerin wird. Einige Passagen des Textes hat Jung in seiner Autobiographie benutzt, es sind die aufschlußreichsten Teile dieses düsteren Selbstgesprächs.

Weit gelungener ist die 1927 geschriebene Novelle „Das Erbe“, ein großer Text, spröde und von bitterer Schönheit. Auch hier löst ein Tod die Bewegung des Erzählens und Grübelns aus: Jung erzählt vom Besuch bei seinem sterbenden Vater. Sichtbar wird eine kleine Hölle aus Verkrampfungen, Einsamkeit Angst, „ein wüster Trümmerhaufen von Erinnerungen, die alles das eine gemeinsam haben: Panik, allein zu sein...“. Das ist, bei aller schmerzhaften Genauigkeit, alles andere als nur privat. Die Erinnerung an die Familie wird zu einem Ausbruch von Ekel und Verzweiflung. „Wir Menschen verstehen einander nicht. Zwischendurch läuft so eine Art Leben ab. (...) Ich will heraus aus der Reihe, los von der Kette. Ich will nicht geboren sein. Ich bin nicht geboren. Ich bin frei. Ich will frei sein. Hörst Du — du Erpresser, du Vergewaltiger, du erdrückst mich, du Vater du. Mich widert das an, dieses Leben...“ Peter Laudenbach

Franz Jung: Das Jahr ohne Gnade. Werke Band 12. 318 Seiten, 38 DM, Edition Nautilus.

Franz Jungs Autobiographie „Der Weg nach unten“ erschien ebenfalls in der Edition Nautilus.