„Warten Sie, bis die Giftgaswolke weiterzieht“

Wie eine offiziell verharmloste Munitions-Fabrik in der Eifel zum Pulverfaß wird/ Experten vermuten nun neben TNT auch verrottete Giftgasgranaten im Boden/ Entsorgung bisher ungeklärt — Zwischenlager in „Zelten oder Hallen“ nötig?  ■ Von Joachim Weidemann

Hallschlag/Eifel (taz) — Hallschlags Ortsbürgermeister Georg Brandt (CDU) klingt an jenem Abend beunruhigt: „Was geschieht denn mit den Bauernhöfen rund um die Munitionsfabrik“, fragt er die Regierungsbeamten aus Mainz und Trier, „wenn bei den dortigen Räumungsarbeiten mit den Giftgasgranten was passiert? Muß evakuiert werden?“ Die Frage sitzt. „Wissen Sie“, kommt Ministerialrat Thomas Kutzmann vom Mainzer Innenministerium ins Stottern, „das ist eines der Details, das wir noch klären müssen“. Eine Evakuierung der Anliegerhöfe will er aber nicht auszuschließen. Den sonstigen Dörflern, die sich an jenem Info- Abend im Hallschlager Bürgerhaus versammelt haben, rät der binsenweise Ministeriale, bei Alarm schnell nach Hause zu rennen, Türen und Fenster zu schließen und „zu warten, bis die Giftgaswolke vorbeigezogen ist“.

Die Hallschlager, bislang nur schwerlich zu erschüttern, vernahmen's mit Unbehagen. Dabei war die Welt im Eifeldorf nahe der belgischen Grenze vor zwei Jahren noch in Ordnung: Glückliche Kühe weideten auf dem Terrain der zerfallenen Munitionsfabrik aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Kinder stöberten in den Ruinen nach neuen Abenteuern. Alles hätte ewig so weiter gehen können. Da funkte 1988 der Grüne Gunther Heerwagen dazwischen. Er roch Lunte, nachdem er auf dem Gelände fast reinen Rohsprengstoff gefunden hatte. Jetzt entpuppt sich die Fabrik als ein einziges Pulverfaß, physikalisch wie politisch. Kampfmittel-Experten vermuten auf dem Fabrikareal neben großen Mengen des Sprengstoffes TNT auch organische Arsenverbindungen und — weitaus schlimmer — eine unbestimmte Anzahl an Giftgasgranaten aus dem Ersten Weltkrieg: gefüllt mit allen damals üblichen Kampfgasen, etwa S—Loss und Chlorcyan. All das rostet vor sich hin. Ein Wettlauf mit der Zeit also — doch Mainz läßt sich nicht drängen.

Gefahren heruntergespielt

Anfangs spielte der Mainzer Innenminister Rudi Geil (CDU) — in Rheinland-Pfalz für Kampfmittelräumung zuständig — die Gefahr herunter. Dann jedoch wollte „auf Nummer sicher gehen“ und versprach im Juni 1989 sogar eine Sanierung „noch in diesem Jahre“. Den Kreis der damit beschäftigen ExpertInnen aber ließ Geil erst am 13. Dezember 1989 zusammenkommen. Und von einer Sanierung fehlt noch immer jede Spur. Sie soll, so der neueste Stand, nunmehr erst 1991 beginnen.

Oberregierungsrat Helmut Kraus, in der Bezirksregierung Trier mit Hallschlag befaßt, hat dafür auch gleich eine Ausrede parat: „Wir müssen zuerst sämtliche Eventualitäten abchecken“. Als derart brisante „Eventualitäten“ erweisen sich vor allem zwei in Archiven dokumentierte Ereignisse: Zum einen, so resümiert Ministerialrat Kutzmann, sei es im Mai 1920 aufgrund schlampiger Arbeitsweise auf dem Gelände zu einer gewaltigen Explosion gekommen. Kutzmann: „Dabei wurden Granaten durch die Gegend geschleudert und drangen ins Erdreich ein.“ Und dort werden sie noch heute vermutet. Zum zweiten belege ein weiteres Dokument, so Kutzmann, daß im Juli 1920 in Hallschlag 22.000 Giftgas-Granaten lagerten. Inzwischen doch bestimmt entsorgt — sollte man meinen! Indes zitiert Kutzmann einen Briefwechsel zwischen dem Reichsministerium und der damaligen Betreiberfirma, wonach Giftgas-Granaten schlichtweg „durch Vergraben beseitigt wurden“.

Das jagt Kampfmittelräumern einen Schauer über den Rücken. Weitere Bodenbohrungen erscheinen ihnen zu gewagt. So beauftragte das Land jetzt ein Ingenieurbüro damit, eine Umfeldstudie zu erstellen, also die Umgebung der Munitions-Fabrik zu analysieren. Dies, so denken die Fachleute, erlaube dann Rückschlüsse auf die Gefahren die im Gelände lauern.

Bodenbohrungen zu gefährlich

Bisherige Tests waren frappierend genug. So wurde TNT in einer Reinheit von 90 Prozent gefunden. Oberchemierat Hans-Christian Gaebell vom Mainzer Landesamt für Wasserwirtschaft warnt davor, daß kleinere Teile dieser TNT-Brocken in Wasser von Mikroorganismen zu aromatischen Aminen zerlegt würden. Diese aromatischen Amine gelten als „toxisch“ und „krebserregend“. Gaebells Labortests mit „nur wenigen Milligramm zermörsertem TNT“ zeugen von der Gefährlichkeit dieser Toxide: „In wenigen Minuten waren alle Wasserflöhe eliminiert.“

Eine vertrackte Lage. Mindestens fünf Jahre, so meinen Experten, wird die Sanierung dauern. Der landeseigene Kampfmittelräumdienst ist damit überfordert. Ein Fachfirma wurde mit dem brisanten Job betraut. Die Kosten gehen in die Millionen. Zahlen muß der Steuerzahler, weil die früheren Firmen allesamt liquidiert wurden und der derzeitge Eigentümer keine Schuld trägt.

Dabei ist ein Hauptproblem der Sanierung völlig unbewältigt: Wie entseucht man das kontaminierte Erdreich? Fachleute sind ratlos, denn dafür gibt es derzeit keine brauchbare Methode. Ein Zwischenlager „unter Zelten oder Hallen“ wird vonnöten sein. „Hoffentlich kein Endlager“, witzelt ein Hallschlager Ratsmitglied.

„Wir wollen ja auch noch leben“

Zweifeln auch die BürgerInnen, das Selbstvertrauen der Verantwortlichen kennt keine Grenzen. Kampfmittelräumer Horst Lenz, der die Sanierung für das Land beaufsichtigen, meint: „Die Sache ist sicher, sonst würden wir sie nicht machen. Wir wollen ja auch noch leben.“ Besonders vertrauenserweckend aber erweist sich an jenem Abend Arnold Heerd vom Mainzer Landesamt für Umweltschutz: „Jedermann weiß“, so tröstet er die Hallschlager, „daß die menschliche Existenz mit Risiken verbunden ist, etwa mit Altlasten.“ Und sogleich setzt er mit scharfer Logik noch einen drauf: „Je größer die Entfernung vom Räumungsort, um so größer der Schutz!“