Riese und Zwerg

■ Trotz des Gewichtes der Bundesbank ist die BRD, verglichen mit der Sowjetunion, ein politischer Zwerg

Die um die DDR erweiterte Bundesrepublik ist — vorbehaltlich der Ratifizierungen — fast wieder souverän, die 1871 von Bismarck aus der Taufe gehobene deutsche Nation ist wieder da. Wie schon die ganze Entwicklung, die seit dem Winter 1989 darauf hinsteuerte, weckt das Euphorien oder Befürchtungen, die auf Bilder versunkener Zeiten und auf historische Zitate zurückgriffen. Als ob er diese Bilder wieder beschwören wollte, berief sich zum Vertragsabschluß der sowjetische Außenminister Schewardnadse auf die traditionellen freundschaftlichen russisch- deutschen Beziehungen. Daß in diesen Verhandlungen die DDR nicht einmal mehr, wie bisher, ein politischer Joker war, ist nicht nur Folge der politischen Umwälzungen. Die eigentlichen deutsch-sowjetischen Beziehungen waren seit Adenauer die zwischen Bundes- und Sowjetregierung gewesen. Auch die sowjetische Regierung hat ihren Satelliten außenpolitisch nie ganz ernstgenommen. Die deutsch-russischen Beziehungen jedoch hatten es in der Tat in sich. Innerhalb der bis 1914 wirksamen europäischen Gleichgewichtspolitik zwischen England, Frankreich, Rußland, Österreich und Preußen, hatten deutsch-russiche Bündnisse seit den polnischen immer eine besondere Bedeutung: die Beherrschung Osteuropas und eine antiweltliche Verbrüderung. Als 1922 Deutschland und Sowjetrußland ein Bündnis schlossen und es 1926 erneuerten, war es das Bündnis zweier schwacher europäischer Pariastaaten, die sich je auf ihre Weise aus ihrer Position heraustricksen wollten. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der den Ausbruch des 2. Weltkrieges absegnete, machte alle deutsch-sowjetischen Zweisamkeiten verdächtig. Aber die Situation hat sich verändert. Die Rede von der neuen deutschen Großmacht ist entweder politisches Kalkül oder Größenwahn. Dieser Größenwahn erscheint in negativer Form noch bei den Gegnern der Vereinigung, die in beeindruckender historischer Ignoranz Vokabeln wie „großdeutsch“ oder „Großdeutschland“ in Umlauf brachten. Faktisch ist die neue Bundesrepublik weder territorial noch der Bevölkerung nach jenseits mitteleuropäisher Maßstäbe bedeutsam, und das gewichtige Wort der deutschen Bundesbank macht noch keine deutsche Hegemonie. Die Sowjetunion mag an ihren Rändern bröckeln und sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise befinden. Vielleicht wird sie in der nächsten Zeit mit solchen Turbulenzen zu kämpfen haben, daß sie weltpolitisch eine Weile ins zweite Glied tritt. Aber selbst Rußland allein wäre noch immer das größte Land der Erde, es wird bei allen wirtschaftlichen und politischen Problemen eine Supermacht bleiben. Auch wenn Europa wieder an weltpolitischem Gewicht gewonnen hat, so haben sich die entscheidenden Probleme verschoben. Da reinigt auch die Festlegung der deutschen Ostgrenze allenfalls die politischen Reden. Eine Gefahr neuer Grenzverschiebungen bestand spätestens seit der Atombombe nicht mehr.

Wirtschaftlich ist die BRD noch bedeutsam. Aber wirtschaftliche Stärke steht immer auf schwachen Füßen. Die DDR ist wirtschaftlich weggeputzt, bei der Bundesrepublik könnte sich bald zeigen, daß das Ganze kleiner ist als seine Teile. Solange die deutsche Wirtschaft jedoch noch nicht abgestürzt ist, bleibt Deutschland allerdings für die Sowjetunion bedeutsam. Und in diesem Sinne ist die politische Schmeichelei Schewardnadses einfach nett gemeint — eine Freundlichkeit von Riese zu Zwerg. Erhard Stölting