„Ein Plan gegen die Innovationsmüdigkeit“

■ Zur Debatte zwischen Jörg Meyer-Stamer und Gaby Weber um die brasilianische Industriepolitik: Der Traum einer total eigenständigen nationalen Wirtschaft ist ausgeträumt/ Der Produktionsapparat muß modernisiert werden DEBATTE

Wie dicht oder wie offen sollen die brasilianischen Grenzen sein, damit sich das Land aus seiner schweren wirtschaftlichen Krise erholt? Welche Bedeutung spielt der „Referenzrahmen Weltwirtschaft“, also die Anpassung der nationalen an die globale — kapitalistische — Ökonomie?

In der taz vom 7. August hat Jörg Meyer-Stamer, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, argumentiert, die Wende in der Industriepolitik des neuen brasilianischen Präsidenten Collor de Mello folge der Einsicht, daß das alte und lang erfolgreiche Modell der Importsubstitution offensichtlich am Ende sei. Zusammengefaßt urteilte Meyer-Stamer, daß nicht die weitgehende Fertigung von Industriegütern innerhalb Brasiliens, sondern die Öffnung der Märkte für ausländische Güter und damit die zwangsweise Modernisierung der Produktion die Situation verbessern könne.

In der taz vom 18. August hielt Gaby Weber, in Uruguay lebende Journalistin, dagegen, daß dieses neoliberale Konzept selbst wiederum längst gescheitert sei. Sie fordert eine Debatte um die Politik der Regierungen in Nord und Süd und verwies auf den lateinamerikanischen Binnenmarkt, den linke WirtschaftswissenschaftlerInnen der Region befürworten.

Der folgende Text von Theo Mutter setzt sich mit den beiden Positionen auseinander. d.Red.

Die Argumente scheinen sich ebenso zu wiederholen wie die Programme; diesen Eindruck vermittelt, jedenfalls auf den ersten Blick, die kontroverse Debatte zwischen Jörg Meyer-Stamer und Gaby Weber. Doch so einfach läßt sich das Programm der augenblicklichen brasilianischen Regierung nicht mit der Politik Pinochets vergleichen, wenngleich beide mit ähnlich messianischem Anspruch auftreten. Die Industriestruktur Brasiliens weist eine Reihe deutlich anderer Merkmale auf, die solche Vergleiche besonders schwierig machen.

Das auf der Strategie der Importsubstitution aufbauende Industrialisierungsmodell, dessen Gründerjahre die Fünfziger waren, basiert auf dem großen Binnenmarkt. Dieser ist viel größer als der des Andenpaktes. Es war also schon immer viel interessanter für transnationale Unternehmen, in Brasilien die Zelte aufzuschlagen als im deutlich kleineren Gebiet des zudem nie richtig funktionierenden Andenpaktes. Nirgends außerhalb Europas, wenn wir Japan und die USA einmal unberücksichtigt lassen, finden Investoren einen ähnlich großen reservierten Markt vor. Es wundert deshalb nicht, daß zum Beispiel so viele auch mittelständische Firmen der Noch-BRD in Brasilien eine Niederlassung unterhalten. Die Industrie, die da geschützt werden soll, ist so brasilianisch also gar nicht.

Tatsache ist auch, daß dieser abgeschottete Wirtschaftsraum ein bequemes Ruhekissen für satte Extra-Profite war und ist. In den USA oder in Europa ausgediente und abgeschriebene Technologien konnten, nach Brasilien abgeschoben, noch lange weiterverwendet werden — es gab ja keine lästige Konkurrenz. Am Automobilmarkt wird es besonders deutlich, bei anderen Produkten zeigt sich der technische Stand — immer zweite oder dritte Wahl — nicht ganz so ungeschminkt. In Deutschland ausgelaufene Modelle von VW oder Opel werden hier zu saftigen Preisen als neue angepriesen.

Das Fehlen der Konkurrenz hat nicht nur zur monopolartigen Preisgestaltung geführt, sondern auch eine gefährliche Innovationsmüdigkeit erzeugt. Letztere zu überwinden und nicht den Konsumenten zu schützen, ist Collor de Mello angetreten. Wohin technische Überalterung des Produktionsapparates letzendlich führen kann, hat die DDR doch besonders anschaulich demonstriert.

Wenn von Gaby Weber argumentiert wird, daß Chile gezeigt hat, daß vom neuen Modell nur die kleine Oberschicht profitiert, dann muß für Brasilien entgegengehalten werden, daß auch das „alte“ Modell von vorneherein die Unterschichten erst gar nicht als Konsumenten einbezogen hat.

Der Verweis auf die protektionistische Politik der USA, der EG und Japans führt deshalb hier nicht weiter, weil diese Volkswirtschaften über eine selbsttragende Dynamik und vor allem über eigene innovative Kräfte verfügen, die ihnen eine viel eigenständigere Politik gestatten als sich dies Brasilien erlauben kann. Soll also statt alter „Rezepte aus der neoliberalen Mottenkiste“ die EG- Planwirtschaft als Erfolgsmodell den Ländern des Südens angepriesen werden?

Der Referenzrahmen Weltmarkt trägt viele Härten und soziale Ungerechtigkeiten in die Länder hinein, doch seine Existenz ist, gewollt oder ungewollt, für alle Wirtschaftspolitiker eine Realität. Der Traum einer total eigenständigen nationalen Wirtschaftspolitik ist nicht nur für die Länder der sogenannten Dritten Welt längst ausgeträumt, die Internationalisierung der Wirtschaftspolitik hat längst begonnen.

Die Forderung nach einem lateinamerikanischen Wirtschaftsraum zur Lösung der Wirtschaftsprobleme in praktisch allen Ländern des Subkontinents ist nicht neu, viel wichtiger ist, sie mit einem konkreten Programm zu füllen. Dieses kann aber auf keinen Fall ein renovierter Aufguß der Importsubstitution sein. Die umfangreichen Analysen dazu zeigen doch, wie wenig diese Strategie ein Ausweg sein konnte.

Die Diskussion sollte aber nicht zu sehr auf die Frage abstellen, ob Konkurrenz nützt oder schadet. Für eine genauere Auseinandersetzung mit dem Plano Collor wäre wichtig zu sehen, in welchem Gesamtrahmen die zweifelsohne notwendige Modernisierung der gesamten brasilianischen Industrielandschaft steht. Auf die Ungereimtheiten und die sozialen Kosten dieses längerfristig angelegten Projektes hätte von Jörg Meyer- Stamer zumindest kurz hingewiesen werden sollen. Es ist nämlich schwierig, einen modernen Kapitalismus schaffen zu wollen, wenn beispielsweise nicht auch das Ausbildungssystem verbessert wird.

Die Ironie im letzten Absatz Meyer-Stamers ist erst nach mehrfachem Lesen erkennbar. Die Sätze lesen sich leicht wie ein dickes Lob für die Regierung und ein Nachbeten der regierungsamtlichen Propaganda. Inzwischen sieht die Realität nicht mehr so rosig aus, wie es sich im Programm liest. Die Ölpreise heizen seit dem neuerlichen Golfkrieg die Inflation noch mehr an, und die internen Machtstrukturen lassen den stets salopp auftretenden Präsidenten doch nicht so schalten und walten, wie er und seine Hintermänner das gerne täten. In mehr als 30 Jahren haben sich die brasilianischen Industriellen an die garantierten Gewinne aus ihren ausländischen Filialen gewöhnt; diese wollen sie sich nicht so einfach wegnehmen lassen. Theo Mutter

Der Autor arbeite zur Zeit als Wirtschaftsberater für Kleinbauern und Genossenschaften im nordost-brasilianischen Pernambuco.