Die Stunde der Transmissions-Kommissare

■ Der unheimliche Abgang des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes der DDR KOMMENTARE

Nein, das war keine Auflösung und schon gar kein Begräbnis. Und der sogenannte „Auflösungskongreß“ des FDGB war auch kein Kongreß. Die etwas über hundert Delegierten hatten auch nicht Platz genommen — sie saßen herum (Branchen- und Abstimmungsblöcke bildend) in einer ehedem geheiligten Halle ihres Ancien régime, in der anwesend sein zu dürfen noch vor ganz kurzer Zeit ein Privileg war, eine Art Klassenprädikat im „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR. Und das Königsblau der Luxuspolster im prächtigsten aller Groß- und Kleinodien des FDGB vermittelte diesmal nicht die rechte Kraft — die für den Zauber von Kongreßatmosphäre. Die sogenannte Versammlungsleitung dilettierte bis hin zur Lächerlichkeit und ließ — nach dem längst gefaßten Auflösungsbeschluß — noch über das als „Grundsatzantrag“ bezeichnete Begehren des Vorsitzenden der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft der DDR, zum FDGB-Auflösungskongreß eingeladen zu werden, abstimmen. Ein paar neue — und ein paar allzu bekannte — Transmissions-Kommissare waren unübersehbar präpariert und versuchten bis zum letzten Moment, Kontrollfunktionen (etwa über das FDGB-Archiv) und Domänen (Gewerkschaftshäuser zum Beispiel) unter ihre Fittiche zu retten. Einige Delegierte reagierten mit umsichtigen Formen verdrückter Wut, andere mit schaukämpferischem Aufbegehren, wieder andere mit beleidigter Resignation.

Selbstbewußte, frische oder gar neue Gewerkschaftstöne, wie sie auch die DGB-Gewerkschaften, mit denen sich die DDR-Einzelgewerkschaften nun jeweils vereinigen wollen, dringend zur Belebung ihrer teils angerosteten Strukturen und ihrer teils erstarrten Funktionärskörper ganz gut vertragen könnten, waren selbst mit ganz großen Ohren nicht recht zu hören. Statt dessen war manchen, die am Märkischen Ufer das Wort hatten oder ergriffen, schon jetzt kaum mehr anzumerken, auf welchem Mist ihre dort verlautbarten Sprüche gewachsen waren. Und binnen kürzestem werden diese systemübergreifenden, diese wahrhaft systemüberwindenden Phraseologen wohl nahtlos und unauffällig die Anzahl derer vermehren, die sich in bundesdeutschen Gewerkschaften so routiniert aus dem traditionsreichen Sack gewerkschaftlicher Gemeinplätze bedienen.

So weit, so schlecht. Doch das Unglück war manifester, war näher. Mit der „gerechten Aufteilung des Vermögens“ des FDGB unter den Einzelgewerkschaften meinte ein Delegierter tatsächlich die „Vergangenheit zu bewältigen“. Und nur ein einziger im Saal wagte — leise, aber bestimmt — auszusprechen: er habe den Eindruck, „Einzelpersonen versuchen, sich Immobilien zu sichern“. Ein in FDGB-Strukturen graugewordener Kollege bekannte sich — gelernt ist gelernt — zu „Irrtümern“, erinnerte dann aber sogleich an die „guten Zeiten“. Ein altgedienter Funktionär aus dem Apparat dankte den vielen Auflösungshelfern der letzten Monate mit einem (eben nicht nur komischen) Versprecher für „ihren Einsatz und ihr Arrangement“. Und die von der SED-Jugendorganisation zurückgezahlte Hälfte jener 100 Millionen Mark, die der Ex-FDGB-Vorsitzende Harry Tisch 1988 (wie schon 1984) — „als gute Geste gegenüber unserer Jugend“ — zur Ausrichtung eines Festivals der FDJ zugedacht und die Honecker mit dem Vermerk „einverstanden“ quittiert hatte, wurden gemäß dem Kongreßvotum vom Februar wohltätig gespendet und verteilt wie vom Nikolaus die Nüsse. Guter Wille? Mag sein. Verunsicherung? Verständlich. Vor allem aber viel — viel zuviel — altes Verhalten. Und kaum neues Denken.

Die SED wollte — mit Hilfe ihres mächtigen Transmissionsriemens FDGB — eine Neubewertung aller Werte betreiben. Und beide zusammen erzogen rücksichtslos ihre Kinder. Das Desaster kam, es kam doppelt und dreifach: denn das volkseigene Kombinat SED-FDGB entläßt seine Kinder noch lange nicht.

Was bleibt? Millionen Schwebeteilchen. Noch- DDR-Bürgern, die Identitätsverlust beklagen und vollständige Übernahme befürchten, wird nun immer häufiger von BRDlern wie zum Troste damit gewunken, auch die Bundesrepublik werde in einem vereinigten Deutschland nicht mehr dieselbe sein. Nein, der Satz läßt nichts Gutes ahnen. Ganz offen und bundesdeutsch gesagt: Der unheimliche Abgang des FDGB war weiß Gott keine vertrauensbildende Maßnahme. Auf DDR-deutsch gesagt: Er war ein Vorkommnis, ein also durchaus beunruhigendes Ereignis. Und er war — wie gesagt — kein Begräbnis: der Leichnam liegt nämlich, das ist überdeutlich, in zu vielen Kellern. Anna Jonas