Verrat!

■ Die Jury, blind und taub: Zur Preisverleihung der 47. Biennale in Venedig

Die Italiener wissen, wie man eine Szene macht. Die meisten der 2208 akkreditierten Journalisten wußten schon, daß Tom Stoppards Rosencrantz and Guidenstern are dead — die betulich-brave Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Stoppard selbst — den Golden Löwen bekommt: Dank der am Lido üblichen Indiskretionen stand es bereits in der Zeitung. Sie wußten schon, daß die Favoriten der diesjährigen Biennale — Scorsese, Ivory, Kaurismäki und Spike Lee — so gut wie leer ausgehen und daß nicht einmal die besten Schauspieler dieses Festivals, von Robert de Niro über Joanne Woodward bis zu Jean-Pierre Léaud, von der Jury gewürdigt werden, sondern irgendwelche Leinwandakteure: der Russe Oleg Borisov und die Chilenin Gloria Munchmeyer, die außer der Jury niemandem aufgefallen waren.

Also warteten sie mit ihrem Pfeifkonzert gar nicht erst bis zur Verkündung des Goldenen Löwen für den britischen Wettbewerbsbeitrag, sondern machten ihrer Empörung schon vorher Luft. Nicht indem sie buhten, sondern mit Applaus. Minutenlang Jubel für den Spezialpreis der Jury an Jane Campions An Angel at my table — die Trilogie über die neuseeländische Dichterin Janet Frame, die lange als schizophren galt —, für den einzigen Preis, der zu Recht vergeben wurde. Jury-Präsident Gore Vidal kam mit seinem Goldenen Löwen gar nicht mehr zu Wort.

Die Entscheidung für Tom Stoppards Theaterverfilmung ist Verrat. Verrat am Kino, weil nichts an ihr Kino ist. Zwar ist das Theaterstück selbst — Shakespeares Hamlet aus der Sicht seiner beiden Freunde Rosenkranz und Güldenstern mit Sprachspielereien und logischem Nonsense à la Leonce und Lena — durchaus sehenswert. Aber Stoppard hat es einfach abgefilmt. Es ist sein erster Film: Anscheinend wollte er seine Bühnenversion seiner Verse für die Ewigkeit festhalten. Zwar macht es Spaß, den beiden Schauspielern Gary Oldman und Tim Roth bei ihren akrobatischen Wortgefechten zuzuhören; aber ich würde sie lieber live auf der Bühne sehen als in Großaufnahme auf der Leinwand. Der Rest ist Kostüm, ein bißchen Mystik und altes Gemäuer.

Daß Scorseses rasantes Mafia- Stück immerhin einen Silbernen Löwen bekam, macht die Sache nicht besser. Der andere Silberne Löwe ging an die Dänin Helle Ryslinge mit Sirup, eine bunt-alberne Beziehungskiste: Teenagerkino. Eine Ohrfeige für den kleinen Amerikaner, der am Lido gezeigt hat, was großes Kinos ist. Chp