»Nur der Pfarrer hatte mal Zeit«

Psychosoziale Betreuung von Aids-Patienten in den Berliner Krankenhäusern und bei häuslicher Pflege  ■ VON MARC FEST

Zu Hause in seinem Zimmer hängen zwei Infusionsflaschen über dem Bett — provisorisch an einem Nagel in der Wand, damit es nicht wie im Krankenhaus aussieht. Links neben der Tür steht ein hoher Regalschrank, von unten bis oben vollgestopft mit Injektionsnadeln, Spritzen, Plastikschläuchen und Medikamenten. Rechts vom Bett kleben Hunderte von Fotos — Momentaufnahmen eines 28jährigen Lebens. »Ich habe das Gefühl, ich hab' noch Zeit«, sagt Dirk (Name geändert) und fügt hinzu: »Eigentlich fühle ich mich in vielen Dingen gesund und lebe viel bewußter als früher.« Dreimal war er schon am Sterben, zuletzt vor einem Monat.

Dirk weiß seit 1984, daß er HIV- positiv ist. »Ich kam damit erst mal klar, fühlte mich auch ganz gut und sicher«, erzählt Dirk. Damals machte er auch mit dem Tanzen weiter, für ihn Beruf und Leidenschaft zugleich. Im Juli 1989 brach die Krankheit dann aus. »Am Anfang war das Fieber. Zunächst hieß mein Hauptproblem ‘Krankenhaus‚. Den Wechsel dorthin wollte ich möglichst lange hinauszögern.« Schließlich kam Dirk in die Station 30-C des Auguste-Viktoria-Krankenhauses (AVK) in Schöneberg. Die Ärzte diagnostizierten eine Lungenentzündung und eine Bakterieninfektion. Nach sechs Wochen am Tropf konnte Dirk wieder nach Hause. Seitdem war er insgesamt sechsmal im AVK, wo er mehr als die Hälfte der letzten zwölf Monate verbracht hat. Lungenentzündungen, Abszesse, Pilz- und Virusinfektionen folgten schubweise in kurzen Abständen. Inzwischen zögert er nicht mehr, rechtzeitig ins AVK zu gehen, wenn das Fieber kommt: »Je schneller du hingehst, desto größer sind deine Chancen. Die Ärzte, die Pfleger und Krankenschwestern sind dort sehr engagiert und ziehen nicht nur ihren Job runter. Es ist für mich allerdings unheimlich wichtig und aufbauend, immer wieder zu Hause zu sein.«

AVK: Besuchszeit ohne Grenzen und Rooming-in

»Schleuse« heißt es auf einigen Türen der Krankenzimmer in den Stationen 30-B und 30-C im AVK, wo gegenwärtig 53 Aids-Kranke liegen. Der unheilvolle Schriftzug ist zum Glück nur ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als hier noch Patienten mit ansteckenden Tropenkrankheiten behandelt wurden. Heutzutage wird hier niemand mehr isoliert. Jeder darf ständig Besuch empfangen, in kritischen Phasen können Angehörige, Freunde oder Lebenspartner für mehrere Tage zu den Schwerkranken ziehen. Ein menschenwürdiges Sterben ist ein Bestandteil des sogenannten »Schöneberger Versorgungsmodells«, das der psychosozialen Betreuung eine gleichberechtigte Stellung neben der medizinischen Pflege zuweist. Ein weiterer Bestandteil ist die enge Zusammenarbeit mit den Sozialstationen der Bezirke, den drei Berliner Aids- Schwerpunktpraxen niedergelassener Ärzte und den Hilfsorganisationen. Nach dem Schöneberger Modell sollen Aids-Kranke möglichst wenig Zeit im Krankenhaus verbringen. Doch immer öfter in der letzten Zeit müssen Patienten länger als nötig im Krankenhaus bleiben, weil sich keine ambulante Pflegestelle für zu Hause finden läßt.

»Der Entlassungstermin ist für die Kranken psychologisch sehr wichtig. Die freuen sich auf ihre eigenen vier Wände. Wenn die Vermittlung an eine ambulante Pflegestelle dann nicht klappt und sie deshalb länger bleiben müssen, geht es ihnen auch körperlich gleich viel schlechter«, schildert Andreas (27), seit anderthalb Jahren Krankenpfleger im AVK, den Teufelskreis. Doch frustriert sei in solchen Fällen nicht nur der Patient, sondern auch der Krankenpfleger oder die Krankenschwester. Denn auch für sie bedeutet die Entlassung eines Patienten jedesmal ein Erfolgserlebnis.

Der »klinische Koordinator«: Verbindung zur Außenwelt

Für die Aids-Kranken auf den Stationen 30-B und 30-C ist Lars oft der erste Ansprechpartner und — wenn es keine Freunde oder Angehörigen gibt — die Verbindung zur Außenwelt. Lars ist »klinischer Koordinator« der Berliner Aids-Hilfe (BAH). Was so bürokratisch klingt, ist für viele Neuankömmlinge eine unschätzbare menschliche Hilfe. Lars ist für alle da. Für den, der etwas Wichtiges zu Hause vergessen hat oder einen Behördengang nicht erledigen konnte, weil die Krankheit plötzlich dazwischenkam. Auch für den, der sich um seine Blumen zu Hause sorgt, die von irgend jemandem gegossen werden müssen. Und Lars hört auch zu, wenn jemand einen Gesprächspartner sucht, um sich seine Ängste und seine Verzweiflung von der Seele zu reden. Lars telefoniert, organisiert und hilft, damit »draußen« nicht alles zusammenbricht. Und wenn der Kranke wiederhergestellt ist, bemüht sich Lars um die Vermittlung an eine der raren häuslichen Pflegestellen — allerdings immer häufiger erfolglos. Zu allem Überfluß ist seine Planstelle nun auch noch gefährdet. Die Förderung im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) läuft demnächst aus, und der Senat hat sich gegenüber der BAH nicht zu einer Übernahme der Finanzierung bereit erklärt. Auch Professor Manfred L'Age, Chefarzt auf den Stationen 30-A und -B, befürchtet »schwerwiegende Beeinträchtigungen«, falls Lars seinen Arbeitsplatz verliert. Er sei »außerordentlich wichtig«, so der Professor.

»Anarchistisches Tuntenprojekt«?

»Anarchistisches Tuntenprojekt« schimpften Politker HIV e.V., als schwule Krankenpfleger 1987 begannen, die häusliche Pflege schwuler Aids-Kranker selbst in die Hand zu nehmen. Inzwischen hat der Senat seine Berührungsängste verloren und fördert HIV e.V. als eine »Pflegestation« im Rahmen der Sozialstationen der Wohlfahrtsverbände. Ähnlich wie im AVK werden auch beim HIV e.V. die Kranken nicht nur medizinisch versorgt, sondern auch psychosozial betreut. 90 Schwerkranke werden seit 1987 gepflegt, 78 davon sind inzwischen gestorben. Gegenwärtig versorgen sechs Krankenpflegekräfte und ebensoviele Haushaltshilfen 15 Aids-Kranke. »Unsere Kapazitäten sind im Keller. Ein Kranker muß sterben, damit wir einen neuen aufnehmen können«, erläutert Pressesprecher Achim Weber die Engpässe im Projekt.

Odyssee durch Krankenhäuser

»Ich bin stolz, daß Dr. Bauer mein Arzt ist«, sagt Ute (Name geändert), die im Januar 1986 wegen einer »Toxo« in das Urban-Krankenhaus eingeliefert wurde. Toxoplasmose ist eine Virusinfektion, die zu krankhaften Veränderungen im Gehirn führt. Im Krankenhaus sagte man ihr während einer Chefarztvisite, daß sie Aids hat. Ute wurde 1979 heroinabhängig. Es folgten Hauseinbrüche, eine Verhaftung, Gefängnis, dann eine Entziehungskur. »Von 1981 an war ich fünf Jahre clean. Erst als ich Aids hatte, fing ich wieder an zu fixen und rutschte diesmal total ab«, erzählt die 30jährige Frau. Hinter ihr liegt eine wahre Krankenhausodyssee: Zuletzt lag sie zwei Monate im Knastkrankenhaus Moabit. »Das ist wirklich übel. Nichts Menschliches. Du hast Angst, da drinnen zu krepieren. Einmal in der Woche kommt der Arzt zur Visite, aber das geht zackzack. Schließlich kam ich aus dem Gefängnis frei, weil man mich wegen der Toxo für unzurechnungsfähig erklärte.«

»Chefarzt Pohle mag Junkies nicht.«

Drei Monate verbrachte sie auf der Station A1 im Rudolf-Virchow- Krankenhaus. »Da gibt es keine menschliche Zuwendung. Der einzige, der mal mit mir sprach, war der Pfarrer. Der Chefarzt Professor Pohle mag Junkies nicht und läßt das einen auch spüren.« Im AVK fand Ute es »am menschlichsten«. Weil sie obdachlos war, mußte sie länger als nötig bleiben. Dr. Bauer verschreibt ihr inzwischen täglich Polamidon, ein Medikament, das ihre Heroinabhängigkeit neutralisiert. »Ich verstehe mich nicht als Drogenarzt. Doch um die HIV-Krankheit von Drogenabhängigen zu therapieren, muß ich sie zunächst von der Spritze und von der Straße wegbekommen«, erklärt Dr. Bauer den Grund für die Polamidonsubstitution. Weil die Polamidonvergabe rechtlich ungeklärt ist, gerät Dr. Bauer immer wieder mit den Krankenkassen und der Staatsanwaltschaft in Schwierigkeiten.

Ute ist mittlerweile nicht mehr obdachlos. Die gemeinnützige Gesellschaft »zuhause im Kiez« (ziK) vermittelte und finanziert ihr eine Wohnung. Ute verfügt über 495 Mark Sozialhilfe und 325 Mark Pflegegeld. Pflegegeldstufe 2 lehnte das Bezirksamt ab. Begründung: Ute »fehle« noch eine dritte opportunistische Infektion. Jeden Tag geht Ute ins AVK und besucht einen aidskranken Freund, den sie dort kennengelernt hat. »Ich will bis zum Tod bei ihm bleiben, denn das schlimmste ist die Einsamkeit.«