Radikal-Realo oder Dorfstratege

■ „Vorwand oder Anlaß“ — eine Antwort auf Joschka Fischer GASTKOMMENTAR

Bis zum 2. Dezember geht es allein darum, die Fraktion DieGrünen/Bündnis90 im Bundestag möglichst stark zu machen. Alles andere bitte später, oder [...] besser gar nicht.“ So der frühere grüne Minister Joschka Fischer in der taz vom 14. September.

Den Mund halten, aussitzen, das ist seine Botschaft. Hauptsache wir (wer ist das eigentlich?) kommen wieder in den Bundestag und gewinnen dann die hessischen Landtagswahlen im Januar so, daß eine Neuauflage der rot-grünen Koalition möglich wird. Joschka Fischer wird dann wieder Minister, die Hessen-Grünen werden dann das Zentrum der Partei und werden den vernünftig gewordenen Resten der Grünen eine strahlende Zukunft sichern! Ein kluger strategischer Schachzug? Die Fakten sprechen dagegen: Die Grünen als selbständige Kraft quer zu allen Parteien, werden zur Zeit nach dem Muster Schily/Reents zwischen SPD und PDS zerrissen, die grüne Partei wird einfach „aufgehoben“. Viele ihrer Mitglieder träumen von einer großen linken Oppositionspartei. Gysi spricht aus, was sie denken: „Wir wollen dazu beitragen, daß im künftigen Deutschland eine größere linke, radikaldemokratische, ökologische und feministische Kraft sich herausbildet, als deren Teil wir uns verstehen.“ Inhaltlich gibt es wenig, was viele Grüne von der PDS trennt. Bleibt die Frage, wie lange die Schamfrist noch dauert, bis Bündnis- und Vereinigungsstrategien offen formuliert werden?

Auf der anderen Seite hat die SPD längst, wenn auch sozialdemokratisch verbogen und ohne die Absicht konkreter Umsetzung, die Ansätze grüner Politik aufgegriffen, den öffentlichen Diskurs besetzt und der politischen Auseinandersetzung die Zähne gezogen. In dieser Situation fällt Joschka Fischer nichts anderes ein, als einen Maulkorb-Erlaß zu dekretieren. Er tut das, da er die Probleme kennt, — augenzwinkernd. Ein solches Schweigen entspricht dem alten Muster der an der Menschenfeindlichkeit der Linken leidenden Gefühlslinken. Es macht die, die schweigen, zu Komplizen. Ich empfehle dazu Sperbers Buch Wie eine Träne im Ozean. Wie Joschka Fischer mit der Schuld des Schweigens umgeht, könnte gleichgültig sein. Aber hier werden der Impuls und die politische Kraft von 25 Jahren demokratischem Kampf in der Bundesrepublik und demokratischem Aufbruch in der alten DDR nicht ernst genommen. Es wird die Chance zur Zeitenwende verspielt, die aus dem Industriealismus herausführen muß. Genau das wäre aber die Chance einer offenen ökologischen Bürgerrechtspartei, die die Scheinalternativen SPD und PDS in den nächsten 10 bis 15 Jahren ersetzen könnte. Die Grünen könnten das, sie würden genau deswegen gewählt werden und würden dann auch regieren.

Es war immer die Stärke der grünen Bewegung, mit allen denkbaren Argumenten die demokratische Öffentlichkeit zu suchen. Weil wir wissen, daß der demokratische Selbstbestimmungswille so vieler Menschen stark ist — und immer stärker wird — darf es kein Diskussionstabu geben. Nur so kann unser aller Leben freier, gerechter und friedlicher gestaltet werden. Das wußte bisher auch Joschka Fischer. Als Radikal-Realo ist er liebenswerter, denn als taktierender hessischer Dorfstratege. Udo Knapp

Der Autor ist Mitarbeiter beim Fraktionsvorstand der Grünen in Bonn.