Keine Zukunft für die „Erdärsche“

Mit spektakulären Aktionen machen Frankreichs Bauern Jagd auf wirtschaftsflüchtige DDR-Kühe: Es geht ums nackte Überleben/Ruinöse Schleuderpreise für die Sprößlinge der ostdeutschen Kommandowirtschaft  ■ Aus Paris A. Smoltczyk

Eine Kuh ist eine Kuh ist eine Kuh. Sollte man meinen. Auf jeder Weide, ob in der Auvergne, in Kent oder Mecklenburg der gleiche tumb-kauende Rinderblick, dasselbe taedium vitae domestizierter Großfauna. Mikroökonomisch betrachtet verhält sich die Sache jedoch ganz anders. Ein mit bloßem Auge unsichtbarer Unterschied, der des Preises nämlich, hat einen Bauernaufstand entfesselt, wie ihn Frankreich lange nicht mehr erlebt hat.

Ende Juli fand ein Schafzüchter in der Vendée seine 94 Schafe mit den Beinen nach oben vor — meuchlings vergiftet, weil er sie aus England importiert hatte. Am 22. August setzt ein Züchter-Kommando einen bundesdeutschen Lastwagen mit 219 (lebendigen) Schafen in Brand, Anfang dieses Monats wurde ein LKW mit bulgarischer Gänseleberpastete ungenießbar gemacht, und seither vergeht kaum eine Woche, daß nicht irgendwo im Land Scheiterhaufen aus gekaperten Rindshälften brennen, deren einziges Verbrechen darin besteht, den falschen Paß zu haben — sozusagen.

Kein Visa-Zwang für DDR-Kühe

Für die französischen Bauern, im Volksmund nur verächtlich „Culs terreux“, Erdärsche, genannt, trägt vor allem einer die Schuld an dem Massaker: das deutsche Rindvieh, bzw. das deutsche Schaf.

Seit der Ostberliner Ministerrat beschlossen hat, nicht nur die DDR im allgemeinen, sondern auch die Viehwirtschaft im besonderen notzuschlachten, exportiert die DDR Fleisch wie nie zuvor. Bereits Ende Juni war das Plansoll für das gesamte Jahr um ein Viertel überschritten. Doch dann ging es erst richtig los: Raymond Lacombe, Präsident des französischen Bauernverbandes FNSEA, schätzt, daß seit August nicht weniger als 500.000 ostdeutsche Rindviecher heimlich über die Grenze in die EG getrabt sind. Das mag kühn gemutmaßt sein.

Auf alle Fälle begannen die bundesdeutschen Grossisten, ihren Fleischbedarf nun nicht mehr in französischen Landen zu decken, sondern kauften für acht bis vierzehn Francs pro Kilo Lebendgewicht die vierbeinigen Sprößlinge der ostdeutschen Kommandowirtschaft. Ruinöse Schleuderpreise — zu denen die nicht mehr subventionierten LPGs von den bundesdeutschen Großhändlern erpreßt werden.

Prompt wurden die französischen Züchter ihre Tiere nicht mehr los, jedenfalls nicht zu den alten Preisen. Seit Jahresbeginn fielen die Anbieterpreise für Rindfleisch in Frankreich von 24 auf 22 Francs pro Kilo, die für Lammfleisch innerhalb von zwei Monaten sogar von 24 auf 20 Francs. Die Preise liegen damit auf dem Niveau von 1987, dem Jahr der Rindfleischflut, als die Einführung der Milchquoten die Bauern zum Abschlachten ihrer Kühe zwang.

Zu allem Überfluß kam in diesem Jahr noch die Dürre dazu. Um ihre Tiere zu füttern, pflanzen die Bauern Mais, eine Pflanze mit großem Durst, die nach ständiger Bewässerung schreit.

Die Dürre treibt das Wasser bis zum Hals

In den Departements Westfrankreichs, wo das Sprengen der Felder aufgrund der Wasserknappheit verboten werden mußte, sind die Maiserträge drastisch zurückgegangen. Jetzt ist nicht nur das Wasser knapp, sondern auch das Tierfutter. Die Bauern fordern Mindestpreise für ihre Kühe und Schafe. Landwirtschaftsminister Henri Nallet möchte alles tun, nur das nicht: Garantiepreise verlocken zur Mehrproduktion. Also bleibt es bei einem Notprogramm. Gratisfutter für die ärmsten Bauern, Zurückstellung der Sozialabgaben und — das Versprechen, sich bei der EG dafür einzusetzen, daß wirtschaftsflüchtigen Kühe aus dem Osten die Einreise in die Gemeinschaft verwehrt wird. Brüssel gelobte Wachsamkeit.

An der Überproduktion an Rindfleisch ändert sich damit nicht viel. Im letzten Jahr, als der Steakpreis sich wieder erholt hatte, glaubten die Bauernverbände an Defizit auf dem Rindermarkt und setzten die Räte im Departement und der Region unter Druck, dem mit Subventionen abzuhelfen. Was diese auch taten. Dummerweise kam diesem Kalkül ein sogenannter säkularer Trend in die Quere: Man ißt kein Rindfleisch mehr und frau auch nicht. Im Gegensatz zu Fisch und Milchprodukten sinkt der Konsum an toter Kuh seit zehn Jahren. Langsam aber stetig.

Neue Wirte braucht das Land

Doch das desperadohafte des Bauernaufstands in diesem Jahr ist nicht allein Geschmackssache. Hier wird eine Welt verteidigt, die im Sterben liegt. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Zahl der selbstständigen Bauern in Frankreich auf eine Million halbiert. Aufgegeben haben natürlich nicht die Großbauern aus der Picardie, sondern eben jene Familienbetriebe, die in den Cevennen, der Auvergne, der Provence dafür sorgten, daß sich die bundesdeutschen Touristen an uriger Ruralität erfreuen durften.

Die Kleinlandwirtschaft hat Frankreichs Landschaft nicht nur geprägt, sondern erst hervorgebracht — von den Hecken in der Normandie bis zu den Steinmauern und Lavendelfeldern der Provence. Und wenn es im Südosten und in Korsika immer häufiger zu Waldbränden kommt, dann auch deswegen, weil es keine Bauern mehr gibt, die ihre Schafe das Gestrüpp wegfressen lassen oder mit Weinfeldern für Feuerbarrieren sorgen. Heute entvölkern sich diese Landschaften, und gedrängt voll ist es nur in den Zuchtfabriken der Massentierhalter.

Im Ministerium ist man sich im Klaren, daß es nicht zuviele Bauern gibt, sondern daß zu viele Bauern falsch beschäftigt sind: „Unsere Auffassung von der Rolle der Landwirtschaft muß über die bloße Produktion hinausgehen. Es gibt reelle Möglichkeiten im Freizeitbereich, Tourismus, aber auch im Unterhalt der Biosphäre“, meinte Henri Nallet schon zu Beginn seiner Amtszeit 1986.

„Ein Bauer hat ein Recht darauf, mehr als nur Landschaftspfleger zu sein. Er muß von seinem Produkt leben können“, antworten die kritischen Kleinbauern der „Confédération Paysanne“. Sie schlagen vor, regional gestaffelte Mindestpreise einzuführen, die nur bis zu einer gewissen Hofgröße garantiert werden: positive Diskriminierung der Kleinen. Sie hoffen, daß sich diese Politik weit weg von den Brüsseler Lobbyisten und Agrokraten auf regionaler Ebene durchführen läßt. Gerade gegenüber den Kuhbauern gibt es gewisse historische Verpflichtungen. Schließlich war es ein Rindvieh, das die schöne Europa einst an Land schleppte.