Ab 0.33 Uhr wird „zurückgefeiert“

Wiedervereinigungsparty am 2. und 3. Oktober in Berlin: Bundesregierung plant Hymnensingen vor dem Reichstag/ Autonome wollen demonstrieren, „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ proklamiert „Tag der deutschen Gemeinheit“  ■ Aus Berlin Ute Scheub

Zwischen dem 2. und dem 3. Oktober werden sich in Berlin nicht nur die beiden Deutschländer vereinigen, sondern auch Jubel und Krawall, Kitsch und Kunst, nationalistischer Taumel und satirischer Protest. Die zukünftige Hauptstadt wird mindestens zwei Tage lang zur Bühne für sämtliche Spielarten von emotionalen Reaktionen, die der Untergang der DDR auslöst. Jetzt schon ist klar: Neben den einerseits von der Bundesregierung, andererseits von West-Senat und Ost-Magistrat organisierten Festivitäten wird es auch eine ganze Reihe von Gegenveranstaltungen geben.

Während die Bundesregierung bei ihren Planungen vor keinem nationalistischen Insignium zurückzuschrecken scheint, versucht West- Berlins rot-grüner Senat, sich davon sehr vorsichtig zu distanzieren. Die zusammen mit dem Ostberliner Magistrat geplanten Feiern „sollen nationalistischen Überschwang und den Eindruck einer reinen Jubelfeier vermeiden“, heißt es in einem internen Papier der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten. Und weiter: „Sie sollen bei aller gebotenen (sic!) Freude durchaus auch zur Nachdenklichkeit anregen.“ Doch auch für die beiden Berliner Bürgermeister Walter Momper und Tino Schwierzina ist die Vereinigung anscheinend nichts anderes als ein „Tag der Freude“. Zum Auftakt des Spektakels wollen sie die Bevölkerung dazu aufrufen, am 2. Oktober ab 18Uhr im Bereich des früheren Grenzstreifens in Kreuzberg Kerzen, Blumen und andere Gegenstände niederzulegen, „die Teilung und Vereinigung symbolisieren“.

Ab 20 Uhr soll dann auf diversen Plätzen im Ostteil der Stadt das Programm fürs gemeine Volk beginnen: mit „ausländischer Tanz- und Folklore“ auf dem August-Bebel-Platz, Chören auf dem Marx-Engels-Forum, Blasmusik der Alliierten im Lustgarten und Rock plus Art Garfunkel auf der Großbühne am Alex. Auch Original und Fälschung wird geboten: Während sich in einem eigenen Festakt im Ostberliner Schauspielhaus die DDR-Regierung von der Bühne der Geschichte abmeldet, gibt's im Alten Museum „Allerletztes aus der Da-De-R“ als Kabarettstückchen.

Zur Stunde Null soll dann ein schwarz-rot-goldenes Silvester mit allem Pomp und Pathos, vielen hochkarätigen Gästen und einem Solistenbläserensemble vor dem Reichstag steigen. Die Bundesregierung, die selbiges inszeniert, hätte zwar lieber unter dem derzeit in Restauration befindlichen Brandenburger Tor posiert. Doch der Senat erinnerte an die schweren Unfälle in der Silvesternacht und schlug vor, das so symbolschwere Tor von allen Veranstaltungen frei und uneingeschränkt passierbar zu machen. Eine weitere Enttäuschung wird Kanzler Kohl mindestens ebenso schwer getroffen haben: Nicht die Oberhäupter der alliierten Siegermächte, sondern nur deren Botschafter werden seiner Inthronisierung zum gesamtdeutschen Kanzler beiwohnen.

Nach der bisherigen Dramaturgie wird um 23.55 Uhr fünf Minuten die Freiheitsglocke bimmeln, bis dann vor dem hermetisch abgeriegelten Reichstag und der Kulisse der in selbstzufriedener Glückseligkeit schwimmenden Politiker zwei Jugendliche aus Ost und West die gesamtdeutsche Flagge hochziehen. Außerdem gleichzeitig: gemeinsames Anstimmen des Deutschlandliedes. Und: Einschalten eines Laserstrahls zwischen Technischer Universität im West und Humboldt-Universität im Osten „als Symbol der Vereinigung“.

Die Kollektivphantasie von Vereinigung wird sich gleich anschließend in einem dreißigminütigen Feuerwerk manifestieren. Es wird an drei Stellen der Stadt gezündet. Ab 0.45 Uhr sieht das Programm Fortsetzung der Volksbelustigung auf der Festmeile im Osten vor.

Einer wird dann aber hochgradig beleidigt sein: Jürgen Wohlrabe, CDU-Präsident des Westberliner Parlaments. Der Abschnitt aus dem internen Papier der Senatsverwaltung für Kultur, das seine Rolle würdigt, soll hier nicht vorenthalten werden: „Der Präsident des Abgeordnetenhauses hat übermitteln lassen, daß für ihn das wichtigste sei, daß die Bundesfahne auf dem Brandenburger Tor gehißt wird. Alles andere sei ,kleinkariert‘. Wenn dies möglich zu machen sein sollte, beansprucht er, die Flaggenhissung vorzunehmen. Auf den Einwand, daß dies aus Sicherheitsgründen kaum möglich sein dürfte, da auf dem Brandenburger Tor kein Fahnenmast vorhanden ist (und daß er dort auch nur unter erheblichen Problemen zu montieren sein dürfte), und daß man schon jetzt überlegen muß, wie man später diesen so sehr historischen Fahnenmast bzw. die so sehr historische Fahne wieder los wird (wenn nämlich die Quadriga, zu der kein Fahnenmast gehört, wieder aufgestellt wird), gab es keine Antwort.“

Am 3. Oktober, dem neuen nationalen Feiertag, soll das neue einig Volk von 10 bis 22 Uhr auf den Straßen feiern, derweil diesmal die Bundesregierung die Spitzen von Politik, Industrie und Gesellschaft zu einem Festakt in der Philharmonie lädt. Das Versprechen, auch Nachdenkliches zu bieten, wird an diesem Tag wenigstens in einigen Ecken des öffentlichen Programms eingelöst. So werden beispielsweise in der östlichen Staatsbibliothek die „verbrannten Dichter“ der deutschen Vergangenheit gewürdigt, im Maxim-Gorki- Theater wird George Taboris Mein Kampf aufgeführt, an der Humboldt- Universität organisiert Lea Rosh „Berliner Diskurse“ und anderes mehr. Am gleichen Tag von 14 bis 17 Uhr wird es aber auch eine massive Gegenmanifestation geben. Die Autonomen und andere Gruppen rufen zu einer Demonstration vom Oranienplatz bis ins östliche Stadtzentrum auf.

Und schon in der Nacht zuvor soll nach dem Feuerwerk „ab 0.33 Uhr zurückgefeiert“ werden. Das Kreuzberger „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“, bekannt durch Funk und Fernsehen und durch diverse subversiv-satirische Spektakel, wird den „Tag der deutschen Gemeinheit“ proklamieren. Wut, Trauer, Frust, all diese frei flotierenden Gefühle, sollen in kreative Aktionen umgesetzt werden. Ort und Zeit werden derzeit noch mit anderen beteiligten Gruppen aus Ost und West abgesprochen. (Tel. 030-6119404).