Biologische Lösung

■ Bonner Politiker verweigern die Entschädigung von Zwangsarbeitern KOMMENTAR

Zehntausende von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen werden in bitterster Armut sterben. Sie werden sterben, ohne daß sich die Deutschen bei ihnen spürbar entschuldigen. Entschieden haben das die Politiker von CDU/CSU und FDP im Innenausschuß des Bundestages. Die Forderung von Grünen und SPD, die Bundesregierung solle eine Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern errichten, wollten sie sich nicht zu eigen machen. Statt dessen empfahl die Ausschußmehrheit — und mit ihr auch die SPD — dem Bundestag, er möge die Bundesregierung auffordern „zu prüfen..., ob eine Fondslösung möglich ist“. Was dies beim gewöhnlichen parlamentarischen Gang solcher Dinge bedeutet: Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten folgt höchstwahrscheinlich der Mehrheit des Innenausschusses. In absehbarer Zeit wird kein ehemaliger Zwangsarbeiter zumindest geringfügig, zumindest finanziell, zumindest symbolisch entschädigt. Bis die Bundesregierung — vielleicht — eine Entscheidung trifft, vergehen wahrscheinlich Jahre. Jahre, in denen etliche dieser alten, durch die ehemals geleistete Zwangsarbeit oft schwerkranken Menschen sterben. Jahre, in denen jene, die am Leben bleiben, alle Hoffnung auf eine wenigstens späte Anerkennung ihrer Leiden endgültig verlieren müssen. Allzu offensichtlich ist nämlich spätestens seit vorgestern, wie die Politiker hierzulande das Problem gelöst sehen wollen: biologisch. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Betroffene gibt es noch. Irgendwann wird niemand mehr da sein, den man entschädigen muß.

Ihren Zynismus verhehlen jene, die über die letzten Lebensjahre Hunderttausender von Sklavenarbeitern des Nazi-Regimes entscheiden, kaum noch. Die Bundesregierung argumentierte bisher so: Völkerrechtlich dürfe man den ZwangsarbeiterInnen gar nichts geben, weil solche Entschädigungen endgültig erst in einem Friedensvertrag zwischen den ehemals kriegsführenden Staaten geregelt werden müßten. Daß diese Position nicht nur unmoralisch, sondern auch noch rechtlich unhaltbar ist, beschied der Bundesregierung selbst der von ihr bestellte Gutachter. Nach Abschluß der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen kann sich niemand mehr auf einen angeblich ausstehenden Friedensvertrag berufen. Statt nun schnell zu handeln, werden neue Gutachten angefordert, die seit Jahren übliche dilatorische Praxis mit neuen Mitteln und Tricks verlängert. Das Mittel der Wahl sind Gutachten. Die schaffen zeitlichen Spielraum. Führen dazu, daß immer mehr Anspruchsberechtigte sterben; im Jargon des Bundesfinanzministers ist das die „biologische Lösung“. Bonn, das zur Zeit mit Milliardenbeträgen nur so um sich wirft, könnte die paar hundert Millionen, die für die ehemaligen, noch überlebenden ZwangsarbeiterInnen gefordert werden, mit der linken Hand bezahlen.

Bonn will nicht. Ungefähr 1,3 Milliarden Mark würde den Bund eine Stiftung kosten. Aus der könnten polnische, russische und andere ZwangsarbeiterInnen einmalig mit ungefähr 2.000 Mark versorgt werden. 1,3 Milliarden für einen materiell gesicherteren Lebensabend jener, die Nazi-Deutschland ausgebeutet, gequält, zerstört hat — das ist ein Spottpreis. Tatsächlich geht es auch nicht um Geld, sondern darum, daß die Einsicht in die geschichtliche Verantwortung fehlt.

Um nicht verantwortlich zu sein, um ihr Gewissen zu entlasten, stilisieren die PolitikerInnen sich von den Nachkommen der TäterInnen zu Opfern: Man könne die nachkommenden Generationen, so argumentieren sie inzwischen in aller Dreistigkeit, nicht mit hohen Entschädigungszahlungen belasten. Die ZwangsarbeiterInnen zu entschädigen, hieße Verantwortung akzeptieren. Das wollte zu ihrer Regierungszeit schon nicht die SPD. Dagegen sträuben sich auch heute CDU/CSU, FDP. Noch heute? Gerade heute, wo Deutschland wieder ganz groß wird, souverän und sich reingewaschen fühlt von seiner Geschichte. Ferdos Forudastan