Volk ohne Kammer — Gift im Gebläse

■ Der asbestverseuchte Palast der Republik in Ost-Berlin: Mahnmal und Öko-Ruine im Herzen der Stadt/ Westliches Vorbild und Modernitätsneurose wurden zum Verhängnis/ Sanierung oder Abriß?

Berlin (taz) — Nicht wenige Abgeordnete hielten es für eine gezielte Demütigung, daß sie mit ihrer 36. Volkskammersitzung so kurz vor dem Ende der DDR noch mal ins ehemalige ZK-Gebäude umziehen mußten. Hätte man die über sieben Monate verschleppte und jetzt überstürzt beschlossene Schließung des „Palazzo Prozzo“ wegen der Asbestverseuchung nicht um wenigstens zwei Wochen verschieben können, um der Volkskammer einen Abgang in Würde zu verschaffen? Wie auch immer: Es ist nur konsequent und zutiefst gerecht, daß im Land der ökologischen Misere jetzt auch das Vorzeigeprojekt und Machtzentrum der alten Stalinisten zur Umwelt-Ruine wird.

Bekannt war die Asbestverseuchung schon lange. Über erste Meßprotokolle von Asbestfaserkonzentrationen in alarmierender Höhe hatte die taz bereits Mitte Februar berichtet. Und selbst in den Jahren der SED-Regentschaft soll die Asbestbelastung insgeheim schon untersucht worden sein.

Es ist typisch für das Honecker-Regime, daß ausgerechnet seine Modernitäts-Neurose und die Sucht nach internationalen Maßstäben dem „Palast der Republik“ zum Verhängnis wurden. Das Renommierprojekt am Marx-Engels-Platz mußte in den 70er Jahren selbstverständlich nach dem neuesten „Stand der Technik“ gebaut werden. Und das hieß nach westlichen „international anerkannten“ Verfahren, wie die Bezirkshygienekommission nachträglich feststellte. Also wurde ein Stahlträgergerüst errichtet und mit 720 Tonnen Spritzasbest umhüllt. Die schwach versiegelte Asbestummantelung bröckelte schnell, die krebserregenden Fasern wurden freigesetzt.

Diese Freisetzung geschieht keineswegs kontinuierlich, sondern ist von Erschütterungen abhängig. Vor allem bei den großen Jubelfesten der vergangenen Jahre, mit denen sich die SED von mehreren tausend Besuchern unter Beifallsstürmen feiern ließ, aber auch bei den Musik- und Tanzveranstaltungen muß das Asbest in satter Konzentration heruntergekommen sein. Die SED-Jubelchöre waren höchst ungesund.

Entscheidend für die Schließung des Palastes waren jetzt nicht die in der Luft gemessenen Asbestfaserkonzentrationen, die in der Leer- und „Ruhephase“ des Gebäudes ermittelt wurden. Alarmierend war nach Auskunft des Westberliner Gutachterbüros ATD vor allem der Asbeststaub, der auf Zwischendecken, in Luftkanälen und in anderen Ecken gefunden wurde, sicheres Indiz für den langsamen Verfall der Asbest- Schutzhülle, der sich auch an den Beschädigungen der Versiegelung feststellen läßt. Bei Erschütterungen, zum Beispiel durch turbulente Volkskammersitzungen, wird nicht nur neues Asbest herausgelöst, auch der alte Staub wird immer wieder aufgewirbelt.

400 bis 500 Millionen Mark soll eine Sanierung des Gebäudes kosten, über die nach dem 3.Oktober Bonn und Berlin entscheiden müssen. Auch die Sprengung der Asbestburg wird bereits diskutiert. Bei einem Abriß würde — späte historische Sühne — der Palast der Republik denselben Weg gehen wie zuvor das Stadtschloß, das eigens für den Protzbau plattgemacht worden war. Einem Wiederauferstehen des Schlosses haben Experten aber vor allem aus Kostengründen bereits eine Absage erteilt. So müßte denn nach einem Abriß des Palastes etwas Drittes und Neues entstehen. Muß man das „Andenken an eine Diktatur“ um jeden Preis konservieren?, fragte gestern der Berliner 'Tagesspiegel‘.

Gegenfrage: Warum hat man es so eilig, die Spuren der eigenen Vergangenheit auszulöschen? Manfred Kriener