Die Nationale Volksarmee wird aufgelöst
: Antreten zum Aushosen

■ Die NVA löst sich auf. War das Leben der Berufsoffiziere ein Irrtum? Wer die neue Uniform bekommt, verliert wenigstens nicht den Job. In Eggesin hängt die gesamte Wirtschaft am Tropf der Armee.

Die Jungs machen kein glückliches Gesicht: Dreckverschmiert, den prallgefüllten Rucksack auf dem Buckel, die Gasmaske unterm Kinn und das Gewehr vor der Brust trampeln sie in Viererreihen unter der Mittagssonne. Zwo, drei, vier — und immer auf dem säuberlich geharkten Rasen rund um den Panzer rum — ein Lied, sechs, sieben, acht. Es sind die letzten, die bei der 9.Panzerdivision in der „Albert-Bytzek-Kaserne“ in Eggesin noch den Gleichschritt üben müssen.

Bis jetzt hatten die NVA-Uniformen das Bild von Eggesin geprägt. Auf knapp 10.000 Einwohner der verschlafenen Kleinstadt am Oderhaff kamen 10.000 Armeeangehörige. Die Landnahme des karstigen Gebietes durch das Militär hat Tradition: General Rommel plante im sandigen Boden der Ueckermünder Heide seinen Afrika-Feldzug. 1951 besetzte die 9. Panzerdivision flächendeckend das Gebiet und konzentrierte hier einen großen Teil ihrer Artillerie nebst kleineren Luftwaffeneinheiten.

Nun leeren sich die Kasernen rund um Eggesin in Spechtberg, Drögerheide, Karpin und Stallberg. Im Divisionsstab herrscht kaum vertuschte Ratlosigkeit. Man fühlt sich unverhohlen allein gelassen von der politischen Führung.

Das monatelange Hin und Her um die Zukunft der NVA hat die militärische Führung in Eggesin zermürbt. Oberst Karl-Heinz Marschner, Kommandeur der 9. Panzerdivision, fällt es sichtlich schwer, die Kritik an seinem Verteidigungsminister herunterzuschlucken. Er spricht von „bedenklichen Auflösungserscheinungen“ seiner Truppe. Schließlich dürfe man nicht Knall auf Fall abziehen. „Der Wachdienst ist eine Gefechtsaufgabe“, das Plakat auf dem Kasernenhof bleut den Soldaten die Verantwortung für ihr „Gefechtsmaterial“ ein: 2.000 Tonnen Munition lagern in den Depots von Eggesin, davon 900 Tonnen für Panzergeschosse und 4.000 Tonnen Sprengstoff TNT. 259 Kampfpanzer, 211 gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, 152 Artilleriesysteme und 2.300 sonstige Armeefahrzeuge stehen in den Hallen.

Abgesandte der Hardthöhe sondierten Anfang August die Arsenale in Eggesin. In welcher Form die „Kameraden von der Bundeswehr“ hier das Regiment übernehmen werden, ist Oberst Marschner noch unklar. Er hat bis jetzt keine entsprechende Anweisung erhalten. Er rechnet damit, einen „Berater“ an die Seite gestellt zu bekommen. „Ob ich am 3. Oktober noch in meiner neuen Uniform an meinem Schreibtisch sitze, weiß ich nicht.“

Seit Tagen bringen Sattelschlepper die Kampfanzüge der Bundeswehr. Zwölf Tonnen Olivgrün in Kisten mit der Aufschrift „Nato-Bestand“ sind gerade angekommen. Geliefert wird vorerst nur das nötigste, die „Kampfausstattung“. Die „Friedensausstattung“ kommt erst im November. Vor der Kaserne präsentiert sich dem Oberst eine deutsch-deutsche Truppe in NVA-Hemden und rotem Bundeswehr-Barett. „Alle Mann zum Aushosen“ — den Laufzettel in der Hand werden die Soldaten vom Scheitel bis zur Sohle neu eingekleidet. Vor versammelter Mannschaft schlüpft Oberst Marschner in die Kampfhose.

„Ich werde die richtige Größe schon noch finden.“ Derweilen sitzt der diensthabende Offizier umringt von Schneidern über dem Modellkatalog. Man lacht, feixt, immer ein bißchen zu laut. Natürlich, die neuen Anzüge sind „viel besser als unsere ollen“, da habe man an den „Menschen gedacht“. Der Schneider ist voll des Lobes über das Material. Wie die Reinigung damit fertig wird, ist allerdings fraglich. „Darf ich wenigstens mein Taschenmesser behalten“, fragt einer, der seit vierzig Jahren bei der NVA ist.

Major Werner Hörenz (41) hätte noch zwei Jahre bei der NVA dienen müssen. Dann wäre er nach 25 Dienst jahren ehrenvoll entlassen worden. Major Hörenz sitzt in der Offiziersmesse, wo das Arbeitsamt Ueckermünde eine Beratungsstunde abhält. Dem ehemaligen Politoffizier vom Bataillon Chemische Abwehr in Karpin mit einem monatlichen Gehalt von 2.300 Mark wurde — gemäß Befehl 26 — zum Monatsende gekündigt. Jener Befehl des DDR-Verteidigungsministeriums vom 8.August regelt die Auflösung der „Staatsbürgerlichen Ausbildung“ (SBA) innerhalb der NVA. Die SBA-Offiziere waren für die Betreuung der Soldaten rund um die Uhr zuständig. „Ich habe immer an meine Arbeit geglaubt“, bekennt Hörenz. Noch im Oktober vergangenen Jahres war er mit voller Überzeugung gegen die „Vaterlandsverräter“, heute sagt er: „Wir waren ja in Eggesin von allen Westmedien abgeschnitten, war ja auch verboten, sie zu sehen. Unsere Chefs hätten uns doch dumm sterben lassen.“ Nun will er Bäcker werden. Eine „Lehrstelle“ hat er schon gefunden. Daß das Arbeitsamt Ueckermünde Hörenz' Umschulung bezahlt, hat er nicht zuletzt der Initiative von Major Volker Nowack zu verdanken. Der umtriebige Presseoffizier der 9. Panzerdivision, selbst ehemaliger Politkader, kümmert sich seit Wochen um Kontakte zu Unternehmen und Arbeitsämtern. Mit Erfolg: Der italienische Konzern Olivetti bietet 100 NVA-Angehörigen Umschulungsplätze in seiner Dependance an.

Eggesin entrüstet sich — unfreiwillig

Eggesin „entrüstet“ sich beileibe nicht freiwillig, die gesamte lokale Wirtschaft hängt am Tropf der Armee. Zwei Großreinigungen, zwei Fleischverarbeitungsbetriebe, ein Baubetrieb, eine Molkerei und eine Großhandelsgesellschaft, die zu 80 Prozent von Armeeaufträgen lebten, stehen vor der Pleite. „Historisch gesehen, zählen wir eben zu den Verlierern“, meint der Oberst lakonisch. Nana Brink