Eine Verschwörung des Schweigens

An der Bremer Universität gehen erstmals in der Bundesrepublik WissenschaftlerInnen gezielt der Frage sexueller Kontakte zwischen erwachsenen Männern und Frauen mit Kindern nach/ Dabei geht es zum ersten Mal auch um weibliche Pädophilie/ Das Thema stößt auf mancherlei Schwierigkeiten.  ■ Von Sophie Behr

„Was will das Weib?“ spricht Altvater Freud. Und nachdem er ihr den Penisneid angedichtet, sie belehrt hat, nur der vaginale sei der reife Orgasmus, und sonst noch einige Zurichtungen vorgenommen hat, gibt er zu bedenken, „das Geschlechtsleben des Weibes“ sei für ihn und alle Psychologie ein „dark continent“.

Der Sexualforscher Kinsey und MitarbeiterInnen durchquerten wohl auf geradem Weg diesen dunklen Kontinent, schenkten der Klitoris dabei Aufmerksamkeit — vielleicht auch zuviel — und räumten jedenfalls mit der Mär auf, wonach normale anständige Frauen keine Sexualität haben. Über Abweichungen sagten sie wenig.

Erst in jüngster Zeit werden Abweichungen von dem, was als weibliche Sexualität landläufig — und das heißt ganz überwiegend von Männern — definiert ist, (wieder) ein Thema. Mann läßt in Publikumszeitschriften triumphierend Frauen zu ihrem Masochismus — auch Sadismus — sich bekennen, und die Wissenschaft hat festgestellt, daß auch Frauen ihre Perversionen leben.

„Was ist eine Perversion?“ frage ich den Sexualwissenschaftler Ernest Bornemann. „Psychoanalytiker sagen, eine Abweichung von der reifen Persönlichkeit,“ antwortet er. „Und wie entstehen Perversionen?“ „Perversionen entstehen, wenn innerpsychische Konflikte sexualisiert werden“, antwortet die Sexualforscherin Marina Knopf, und dies geschehe als Begleiterscheinung der Emanzipation eben häufiger als früher.

Insofern ist es logisch, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft ausnahmsweise ein sexualwissenschaftliches Forschungsprojekt finanziell fördert. Am Institut für empirische und angewandte Soziologie der Universität Bremen untersuchen mehrere WissenschaftlerInnen die „Phänomenologie sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern“ und dabei erstmals auch solche zwischen Frauen und Kindern.

Logisch ist es, aber zweischneidig. Dunkle Kontinente haben ihr Gutes, zumal wenn ForscherInnen in einer Gesellschaft forschen, in der die Definitionsmacht nach wie vor Männern zukommt. Projektmitarbeiterin und Psychologin Marina Knopf hat das schon zu spüren bekommen bei ihrem Versuch, weibliche Pädophilie aus den „Maschen der Sexualwissenschaft“ wieder hervorzuholen, durch die weibliche Sexualität in der Vergangenheit vielfach „geschlüpft ist“ (Knopf).

Sie ist sich sogar „sicher“, gerade von Frauen „gewaltig eins aufs Dach“ zu bekommen. Fraueninitiativen, die mit sexuell mißbrauchten Kindern arbeiten, signalisierten ihr: „Kümmern Sie sich lieber um die Opfer.“ Lesbische Frauen wiesen den Gedanken von sich, sie würden sich je an Minderjährigen vergreifen, wenn Marina Knopf fragte, ob auch Frauen „sich erotisch von Kindern angezogen fühlen oder sexuelle Erlebnisse mit ihnen haben“ (Projektbeschreibung).

„Ob man mal was anderes denken darf, als Frauen sind Opfer und immer nur Opfer, Frauen haben nur diese kuschelige Sexualität?“, fragt sich die junge Psychologin. „Frauen und pubertierende Jungs“ hat sie festgestellt, das „geht noch am ehesten“. Da wird, wenn auch mit Vorsicht, damit es „keinen Ärger“ gibt, berichtet. Eine junge Frau „mit wenig Tabus“, die über Monate eine regelrechte Affäre mit einem zwölfjährigen Jungen hatte, empörte sich im gleichen Interview heftig über pädophile Männer. In Forschungsberichten erzählen einsame Frauen mit unglücklichen Männerbeziehungen, wie sie mit pubertierenden Jugendlichen ihr Glück gefunden hatten. Standardrechtfertigung: „Aber wir haben uns doch geliebt.“

Ich erzähle Marina Knopf, daß mir ein alter Freund berichtet habe, Kinderfrauen, zumal ältere, würden angesichts der niedlichen Leiber von Kleinkindern häufig heimlich onanieren. Die Wissenschaftlerin will sofort wissen, woher der Freund das habe. (Als ich ihn später frage, will er sich nicht erinnern.) Marina Knopf sagt dazu: „Oft, wenn ich Fallgeschichten aus der Literatur nachgehe, kommen mir Zweifel, oder es stellt sich direkt heraus, daß es männliche Phantasien sind.“

Dennoch glaube sie, daß Erotik zwischen Frau und Kind nicht — wie vielfach in der sexualwissenschaftlichen Literatur behauptet wird — „exotisch“ sei. Praktiken, die als sexueller Kontakt von Frau zu Kind definierbar sind — etwa das Masturbieren unruhiger Säuglinge durch Pflegepersonen —, seien früher an der Tagesordnung gewesen, bestätigt auch der Sexualforscher Bornemann; sie unterlägen heute jedoch einem starken Tabu, seien „verschüttet“.

Mutter und Kind, Pflegerin und Säugling, da darf nicht mal was Erotisches aufblitzen, das ist rein wie Madonna col bambino. Dabei sind sexuell getönte Erlebnisse in Krippen, Horten, Kindergärten „wahrscheinlich viel viel weiter verbreitet, als man denkt“ (Knopf).

In den USA immerhin gibt es den Begriff „Baby Sitter Abuse“ für die Tatsache, daß pubertierende Mädchen — oft aus Neugier — sexuelle Erkundungen und Manipulationen an den ihnen anvertrauten Kindern vornehmen, darauf vertrauend, daß diese es nicht verraten können. Sind die Kinder älter, sind sie womöglich noch weiblich, geht das Mutter- Kind-Spielen unter „Die-Brust-Geben“ hinunter, dorthin, wo das noch immer unbenannteste weibliche Lustorgan sich befindet, dann ist das ebenso unaussprechlich, wie der Phallus in aller Munde ist. Dann darf nichts herauskommen, oder die „Täterin“ muß sich umbringen.

Derartiges geht allenfalls in (psychoanalytischer) Literatur. Die französische Analytikerin Christiane Olivier kritisiert in ihrem vielgelesenen Buch Jokastes Kinder „die Verschwörung des Schweigens um unser Geschlecht“. Sie plädiert dafür, daß Mütter ihrem weiblichen Kind endlich sagen „was es ist“ — nämlich „ein kleines Klitorismädchen“.

Doch Initiationen von Frau zu Frau finden im Bewußtsein nicht (mehr) statt. Da es so schwer ist, Frauen zu finden, die begreifen können, daß ihr Umgang mit Kindern möglicherweise auch eine sexuelle Komponente enthält, geht Marina Knopf jeder Spur, jeder Phantasie nach, solange sie orginär weiblichen Ursprungs ist: „Ich bin interessiert zu erfahren, was es eigentlich wirklich gibt.“ Deshalb hat das Bremer Projekt auch schon Kleinanzeigen in Zeitschriften aufgegeben, um den „Alltag solcher Beziehungen“ kennenzulernen: „Uni-Forschungsprojekt sucht Frauen, die sexuelle Kontakte zu Kindern haben oder hatten, für Interviews“.

Am Schluß unserer Gespräche frage ich Frau Knopf, „was ist eigentlich ein sexueller Kontakt?“. Denn das Tabu ist auch bei mir so mächtig, daß mir alle Kriterien, Gedanken und Gefühle über Liebe und Lust durcheinandergewirbelt werden.

„Einer, der eine genitale, sexuelle Erregung beinhaltet“, erklärt sie. „Also, das Stillen eines Säuglings, mindestens für manche Frauen“, kontere ich, „denn da kontrahiert ja — physiologisch sogar meßbar — die Gebärmutter, mit der — erwünschten — Folge, daß der Uterus der Mutter wieder seine „Normalgröße“ annimmt.

„Wo verläuft die Grenze zwischen (hier Mutter-)Liebe und sexueller Stimulierung denn dann?“ — „Dort, wo man eine Situation aufsucht, weil sie sexuell erregend ist“, sagt die Psychologin, wo die sexuellen Gefühle nicht mehr angenehmes Nebenprodukt seien, zum Beispiel, wenn eine Frau ein Kind „dauernd stillt, obwohl das Baby gar keinen Durst hat oder wenn noch gestillt wird, obwohl das Baby schon rumläuft und aus der Tasse trinkt“.

Unser Gespräch mündet am Schluß wieder in die Frage nach dem immer noch „dunklen Kontinent“: Gibt es die Sexualität der Frau überhaupt? Gibt es nicht vielmehr viele Sexualitäten der vielen verschiedenen Frauen?

Kontakt: Dipl. Psych. Marina Knopf, Fachbereich 8 der Universität — EMPAS, Postfach, 2800 Bremen 33, Tel. 0421/2182968 oder 040/433096