„Die Männer sind mit vierzig fertig“

Die 180 Beschäftigten der Berliner Leder GmbH werden nicht nur von der Kündigung bedroht, sondern sind auch ständig gesundheitlichen Risiken ausgesetzt  ■ Von Claudia Wuttke

Der bleierne Himmel über den roten Backsteingebäuden der Gerberei reflektiert triste Alltäglichkeit. Am 1. Juli wurde die ehemalige Lederfabrik „Solidarität“ in Ost-Berlin in die Berlin Leder GmbH umgewandelt.

Aasige Rinderfelle werden hier zu geschmeidigen Lederhäuten für die Schuh-, die Täschner- und die Möbelindustrie aufgearbeitet. Geliefert wird nach Westeuropa, die Sowjetunion und an den einheimischen Markt. Vor Ort bleibt eine belastete Umwelt und die angegriffene Gesundheit der im Produktionprozeß Beschäftigten.

In der Wasserwirtschaft, wo die eigentliche Gerbung erfolgt, sind die Männer und Frauen tagein, tagaus chrom- und sulfidhaltigen Dämpfen ausgesetzt. Sitzen die Handschuhe nicht eng genug an, kann es passieren, daß „die Fingerkuppen weggeätzt werden“, berichtet Hans Röhrich, der ehemalige Betriebsschutzdirektor und heutige Leiter der technischen Entwicklungsabteilung.

Beim Fräsen und Abschmirgeln des Leders im Betriebsteil „Egalisierung“ entsteht feiner Staub, den der Mann an der Maschine 21 mal pro Minute mit dem Sauerstoff einatmet. In der Färberei ist es ewig feucht.

Nach der Betriebschronik hat die GmbH eine grauenhaft deutsche Geschichte hinter sich: Kurz nach der deutschen Märzrevolution 1848 nahm ein jüdischer Gerber auf dem Gelände in der Pankstraße sein Handwerk auf. Der Familienbetrieb wurde im Nazi-Deutschland der 30er Jahre von den Faschisten enteignet und der Heil AG Worms zugesprochen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Kriegsgefangene in Zwangsarbeit eingesetzt. Gegen Ende des Krieges — als die Rohhäute knapp wurden — übernahm der Betrieb die Aufarbeitung von Schuhen, die aus Konzentrationslagern angeliefert wurden. Die Gerberei wurde entsprechend den Nürnberger Gesetzen enteignet und unter sowjetische Militärkontrolle gestellt; 1948 wurde sie in das Kombinat Schuhe einbezogen.

Jetzt führt der ehemalige Betriebsdirektor Fritz Pawel den Betrieb allein weiter. Im Juli wurde er von einem Beauftragten der Treuhand als Geschäftsführer eingesetzt. Das war der einzige Kontakt, den Pawel bisher mit der Eigentümerin der GmbH gemacht hat. „Treuhand, wer ist das?“ scherzt er.

Über die Zukunft der Gerberei muß am Alex noch entschieden werden. Kaufinteressenten scheint es nicht zu geben. Die nötigen Investitionen werden Millionen kosten. Im Betriebsteil Wasserwirtschaft dreht sich nur noch eine der neun Gerbmaschinen.

Die Luft riecht nach einem Gemisch aus Aas, Schweiß und Chemie. Der Wasserverbrauch liegt zwischen 800 und 900 Kubikmetern täglich. Die Abwässer gehen in die Kanalisation und mit ihnen, schätzt Pawel, „durchschnittlich 70 Milligramm Chrom pro Liter“. Die legale Höchstgrenze liegt bei einem Milligramm pro Liter.

Der Ostberliner Stadtrat für Umweltfragen, Holger Brandt, weiß, daß die Gerberei an dem kleinen Flüßchen Panke „der Hauptverursacher für Schwermetalle des Klärwerks Schönerlinde“ ist. „Die Schlämme werden auf die nächste Deponie gekippt“, erklärt Brandt.

Eine Abwasseranlage hätte in der ehemaligen Lederfabrik schon 1980 gebaut werden sollen. Das Vorhaben wurde aber vom Betriebsdirektor gestoppt, weil die Anlage als Abfallprodukt explosiven Schwefelwasserstoff erzeugt hätte. „Da können Sie sich überlegen, wie schnell es “ Bumm gemacht hätte“, meint Pawel. Beim zweiten Anlauf für die Anlage kam ihm der Einigungsprozeß in die Quere.

Ursprünglich sollte die Gerberei nämlich von einem deutsch-deutschen Umweltpaket profitieren. 6,5 Millionen D-Mark wollte das Bonner Umweltministerium zur Finanzierung der technischen Geräte stiften. 5,5 Millionen Mark der DDR sollten aus Ost-Berlin kommen. Das Pilotprojekt „abwasserarme Gerberei“ wurde aber im April 1990 eingestellt, dafür steht dem Werk ein zinsgünstiger Zehn-Millionen-Kredit von der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu. Damit will Pawel nun endlich die Abwasseranlage finanzieren. „Bis zum Juli 1992 soll sie stehen,“ bestimmt er.

In der Wasserwirtschaft wird aber auch noch ein anderes Problem sichtbar: der Verschleiß an Arbeitskräften. Zwei Männer stehen an der mechanischen Gerbmaschine. Sie legen das nasse, gequollene Leder in das walzenartige Gerät ein. 80 Kilo wiegen die bläulichen Vier-Quadratmeter-Lappen. Ein Arbeiter hievt das Leder vom alten Stapel, während der andere das durchgewalkte auf den neuen Stapel schwingt. Gemeinsam legen sie es in die Maschine ein. Bücken, Hieven, Einlegen, Schwingen, Bücken — wie lange macht das ein Rücken mit?

„Die Männer sind mit 40, 45 fertig“, berichtet Röhrich. Und dann? Früher wurden sie in anderen Abteilungen weiterbeschäftigt. „Heute gibt es für sie noch keine befriedigende Lösung“, sagt der Leiter der Entwicklungsabteilung. Einige der Verschlissenen sind bereits entlassen worden. Eine betriebliche Altersversorgung gibt es nicht.

180 Beschäftigte arbeiten noch bei der Berlin Leder Gmbh, die den Zusatz „klein und zusammen“ trägt. 70 ArbeiterInnen mußten schon gehen, und Pawel ist der Betrieb noch nicht klein genug. Nochmal soviele seien von der Kündigung bedroht. Doppelt bestraft sind diejenigen, deren Gesundheitschäden von der Berufsgenossenschaft nicht als Berufskrankheit anerkannt werden, die somit keine Unfallrente gezahlt bekommen. Es bleibt allenfalls eine schmale Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Auch die Arbeitsbedingungen in der Färberei bergen gesundheitliche Risiken. Bollernd und rumorend drehen sich hier wie Mühlenräder riesige Holzbottiche in feucht-schwüler Atmosphäre. Chemische Tinkturen durchwirken die Rinderhaut in den Farben Limone, Wildgrün oder klassischem Schwarz. Die Dauerbelastung von Herz, Lunge und Kreislauf hinterläßt ihre Spuren bei den ArbeiterInnen.

Die Gerberei in der Pankstraße hat gute Überlebenschancen. 600.000 Quadratmeter feinste Fertigleder wurden 1989 aus den Kadaverresten produziert. „Etwa 360.000 sollen es 1990 sein“, plant Pawel. Pawel ist optimistisch: Obwohl der Absatz im zweiten Quartal „ziemlich mau“ gewesen sei, orderten die Abnehmer seit August wieder verstärkt.