Halbherziger Atomausstieg

Nach dem halbherzigen Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung über Atomenergie ist nur eines gewiß: Spätestens im Jahr 2000 ist wieder ein Urnengang zur Atomkraft fällig  ■ Aus Basel Thomas Scheuer

Haben die Schweizerinnen und Schweizer nun den Ausstieg ihres Landes aus der Atomenergie beschlossen oder nicht? Um diese Frage kreisten am Montag die Interpretationen der Volksabstimmung vom Wochenende: Zwar hatte eine knappe Mehrheit von 52,9 Prozent der Stimmenden einen totalen Ausstieg aus der Atomkraft abgelehnt, im gleichen Urnengang mit 54,6 Prozent einen zehnjährigen Baustopp für AKWs beschlossen. „Ein solches Moratorium wäre der Einstieg in den Ausstieg aus der Kernenergie“, hatte Energieminster Adolf Ogi das Stimmvolk bis zuletzt gewarnt. Doch jetzt will der Landesvater solches nie von sich gegeben haben. Es sei „dort falsch“, schmettert Ogi gar den Verweis auf das offizielle Parlamentsprotokoll ab. Der Baustopp bis zum Jahr 2000 sei keineswegs die erste Stufe des Ausstiegs.

Fest steht: Bis zum Jahr 2000 darf die Regierung keinen neuen Atommeiler mehr genehmigen. Direkte Auswirkungen auf das eidgenössische Atomprogramm wird dieser Volksentscheid jedoch vorerst keine haben: Die fünf bereits bestehenden Atomkraftwerke sind nicht tangiert; zusätzliche AKWs sind derzeit nicht geplant.

Ganz offensichtlich wollen die SchweizerInnen keine weiteren AKWs, wagen aber noch nicht den Totalausstieg. So haben die notorisch überversicherten Helvetier am Sonntag dem radikaleren Sofortausstieg eben die erste Etappe eines quasi „rückholbaren“ Ausstieges auf Raten vorgezogen. „Einen typisch schweizerischen Kompromiß“ nennt der Kommentator des 'Tages-Anzeigers‘ das Abstimmungsergebnis.

Nach Ansicht der Freisinnig-demokratischen Partei, der eigentlichen Wirtschaftspartei des Landes, hat das Stimmvolk bewußt die Option Atomenergie offengehalten; trotz des Moratoriums dürfe die schweizerische Industrie nun den Anschluß an die internationale Entwicklung der Atombranche nicht verlieren. Für Sozialdemokraten und Grüne dagegen hat die Bevölkerung mit diesem Abstimmungsergebnis „ein politisches Zeichen für einen Ausstieg aus der Atomenergie gesetzt“. Von einem „Energiefrieden“ wird die öffentliche Diskussion während der 10jährigen Denkpause also gewiß nicht geprägt sein.

Wie aber geht es nach der Jahrtausendwende weiter? Tatsächlich deuten zahlreiche Indizien darauf hin, daß die energiepolitischen Weichen in der Schweiz langfristig die Atomkraft aufs Abstellgleis bugsieren werden: Der jetzt abgesegnete Baustopp ist erst die zehnte Volksinitiative, die seit der Einführung dieses plebiszitären Instrumentes vor immerhin schon 99 Jahren eine Mehrheit an der Urne erhielt. Für die abgelehnte Ausstiegs-Initiative haben dieses Mal erneut mehr Menschen gestimmt als 1984 und davor 1979, als Anti-Atom-Initiativen ebenfalls nur knapp abgelehnt wurden. Gleich 70,1 Prozent votierten außerdem für einen Energie-Artikel, der die gesetzliche Regelung für eine sparsame, sichere und umweltverträgliche Energieversorgung schaffen soll. Überdurchschnittlich große Zustimmung fanden sowohl Moratorium als auch Ausstieg in jenen Regionen, die von atomaren Vorhaben betroffen waren oder sind. So hat offenbar die Gegnerschaft zum nahen französischen Schnellen Brüter Creys-Malville im Kanton Genf den Anti-Atom-Stimmanteil um neun Prozent erhöht: 65 Prozent pro Ausstieg; 69,2 Prozent pro Moratorium. Damit hat Genf Basel als traditionelle Hochburg der Atom-Gegnerschaft (jahrzehntelanger Kampf gegen Kaiseraugst) abgelöst. Besonders hohe Atom-Ablehnung wurde auch in jenen Berggegenden registriert, in denen die Nukleokraten mögliche Endlagerstätten für radioaktiven Müll erforschen. „Die Zeit arbeitet für uns und gegen das Atom“, meinen denn auch Anti-Atom-Aktivisten im Hinblick auf die wohl unvermeidlich ins Haus stehende nächste Atom-Abstimmung, spätestens im Jahr 2000.