: Die Fahrt von Dauntaun 36 zu Arnold Schwarzenegger
■ Verlorene Heimat Kreuzberg: Erinnerungen im Stau/ Von einem, der ins Kino wollte, auf dem Weg ins Hadern kam und in eine Odyssee geriet .../ Die Moral von der Geschicht': Lieber Babylon als Ost-Berlin, lieber Fahrrad als Blechkarosse — und in der Heimat ist es doch am schönsten
Kreuzberg/Mitte/Irgendwo. Eigentlich hatte mein »freier Samstag« diesmal vielversprechend begonnen.
Der stete Donner des neuerdings durch unser »Wohngebiet Mariannenstraße« rollenden Schwerkraftverkehrs hatte überraschend früh nachgelassen. Schon gegen 4 Uhr morgens war ich daher in einen tiefen Schlaf gesunken und erst erquickende vier Stunden später durch einen lautstark ausgetragenen morgendlichen Ehezwist unter meinem Schlafzimmerfenster geweckt worden. Kein Grund zur Aufregung. Beide hatten klar einen über den Durst. Noch etwas desorientiert, überprüfe ich zunächst kurz und routiniert meine Gesichtszüge nach neuen, nervösen Deformationen. Nichts. Im Gegenteil! Meinem linken Auge geht es heute morgen deutlich besser. Lediglich die Mundwinkel zucken noch ab und an etwas unkontrolliert, wenn das hartnäckigste Martinshorn der Welt mal wieder durch die Straßen bläst. Ich schöpfe Hoffnung. Bin schließlich mit Micha verabredet. 14 Uhr vor dem Royal, auf dem Ku'damm. Schwarzeneggers Totale Erinnerung steht an. Und ich stehe auf Arnold.
Vorsichtshalber verlasse ich das Haus daher schon gegen elf Uhr und begebe mich auf die Suche nach meinem Wagen. Für gewöhnlich veranschlage ich nicht mehr als ein zehnminütiges unstetes Auf und Ab, bis mir sein Standort wieder einfällt. So auch diesmal. In persönlicher Jahresbestzeit finde ich ihn unter der Hochbahn an der Skalitzer. Locker fädle ich Richtung Kotti ein. Mächtig was los. Nicht ein Stück freier Asphalt ist mehr zu sehen. Und vor allem: die vielen Zweitakter. Puah!
Auf der Skalitzer kann man stundenlang dahinkriechen ...
Ein nostalgisches Transitgefühl bemächtigt sich meiner. Verspielt sinniere ich über die goldene Zeit, als Berlin noch ordentliche Stadtmauern hatte und man jenen fremdartigen Gerüchen nur vorübergehend auf dem Weg in den Westen begegnete. Aber jetzt, ohne Schutzwall, das ist, als hätte man Lady Kreuzberg die paar zerfetzten Lumpen auch noch vom mageren Körper gerissen, um nun erbarmungslos auf ihr herumzutrampeln. Alle sorgsam gehüteten Geheimnisse dieses Kiezes, seine Schönheiten, Wunden, Narben und Tumore, all das liegt nun bloß und niedergetreten vor den abertausend gierigen Augen tagtäglicher Pilgerströme. Und Widerstand ist weit und breit nicht zu erkennen. Vereinzelt auftauchende T-Shirts mit »... Maua wiedaham« drauf sind angesichts dieses internationalen Veitstanzes doch eher eine schmollmosernde Trotzreaktion. Aber auch der jüngste autonome Pflastersteinexport in die ärmlichen Schaufensterauslagen drüben wird die Mächtigen der Stadt nicht davon überzeugen können, wenigstens um Kreuzberg herum ...
Für die 100 Meter zum Kotti brauche ich satte 20 Minuten, und im Kreisel geht dann gar nichts mehr. Nur die Radler brausen an uns vorbei. Irgendwie gucken die ziemlich frech, finde ich. Die junge Türkin mit den drei Kindern im Fond ihres Anthrazit-Daimlers links neben mir ist am Ende. Keiner läßt sie auf die Außenspur. Tränen der Verzweiflung rinnen der armen Frau die gepuderten Wangen hinab. Als es dann endlich weitergeht, zeige ich mich rittersportlich. Aber sie ist nicht allein. Zu spät erkenne ich, daß sie das Hauptfeld eines starken Hochzeitskonvois anführt. Der Typ mit den eiligen Arzneimitteln hinter mir tobt. Unschöne Worte dringen durch den Spalt im Fenster. Doch nicht lange. Der Helikopter 30 Meter über uns beendet die schäbigen Tiraden.
Mein Gott, wie schön war es doch im »Vornovember«. Ruheloses Kreuzberger Ghetto? Ständiger Aufruhr? Von wegen, eine Oase des Friedens war das hier, meine Lieblingsnische, die bestorganisierte kollektive Aussteigerdatscha des Westens. Das haben wir jetzt von der Niedervereinigung: »Ich will aber nicht zum Militär«, kräht mein Kleiner neuerdings gerne. Und was das schlimmste ist: Durch den Mauerfall gibt es nicht einen triftigen Grund mehr, uns »Trotz-alledem«-Kreuzberger zu bemitleiden. Oder gar den Mut zu bewundern, mit dem wir unbeirrt fortfahren, unsere alternativen Strukturen genau hier aufzubauen.
Was wird nun aus der »Freien Republik Kreuzberg«? Börlin-City etwa? Dauntaun 36? Alles ändert sich. Und zwar verdammt schnell. Die Schankwirte waren die ersten, die Ärger bekamen. Aber jetzt gibt's hier auch schon richtige Strafzettel fürs poplige Falschparken, und so manchem von uns flattern nun gar Briefe ins Haus, man möge die nächste Mietzahlung doch bitte etwas pünktlicher vornehmen. Dafür geht aber auf der Straße absolut nichts mehr. Und die Wochenendeinkäufe haben wir auf Dienstag morgen, 9 Uhr, verlegt. Wo soll das enden? Wird Kreuzberg in einer Gesamtberliner Metropolensuppe aufgehen, als undefinierbares Fettoje mittenmang?
In der Fremde ist es kalt: Irrwege im Industriedschungel
Wann und wie ich die Prinzenstraße erreicht habe, weiß ich ehrlich nicht mehr. Aber an meine »geniale Idee«, dem Stau nach rechts zu entweichen, um dann über den Ostteil der Stadt auf den 17. Juni und von dort zum Ku'damm vorzustoßen, daran kann ich mich nur allzugut erinnern. Stundenlang bin ich drüben umhergeirrt auf der Suche nach diesen verfluchten »Unter den Linden«. Und wen soll man fragen, is' ja keiner da am Samstag. Sind doch alle bei uns. 'ne Geisterstadt ist das. Und nun steh' ich hier, irgendwo in einem verrotteten, stinkigen Industriegebiet, und habe keine Ahnung, wohin ich soll. Wo bin ich? Der einzige Mensch, den ich vorhin antraf, war ein mental schon fahrig gewordener Touri aus Husum, ursprünglich auf dem Weg zu einer Ausstellung im Bethanien. Voll mit den Nerven runter der Typ. Wollte nur noch in sein Steglitzer Hotel zurück. Auch ich bin am Ende. Habe kaum noch Benzin, und mein Rücken schmerzt. Ich will heim.
Heimat, schöne Heimat: der Mariannenplatz
Es reicht. Ich stelle den Wagen ab und steige aus. Melchiorstraße. Arschkalter Wind hier. Werd' mich trotzdem weiter zu Fuß durchschlagen. Das Auto hol' ich dann morgen. Mit Stadtplan und ortskundigem Führer, versteht sich. Aber moment mal, da vorne, ist das nicht, das ist doch ... die Mariannenkirche! Mensch, mein Kiez, ich bin zu Hause, ich hab's geschafft. Na klar, hier stand mal die Schandmauer. Als hätte ein Hurrikan seine Schneise geschlagen. Aufgeregt laufe ich weiter. Die gute alte Muskauer, denke ich, und wie schön doch der Mariannenplatz und das von Bäumen und der hereinbrechenden Dämmerung geheimnisvoll versteckte Bethanien aussehen — oder die phantasievollen Figuren am Springbrunnen vorne. Jetzt ist alles wieder gut. Gemächlich schlendere ich nach Hause. In der Oranien pulsiert das Leben. Oh Lichter der Großstadt — ick liebe eusch. Heute abend gehe ich ins Babylon, in der Dresdener, in SO36. Zu Fuß! Und morgen kauf' ich mir endlich ein Rad. Bin schließlich ökologisch orientiert. Aber was sage ich Micha? Philippe André
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