: Geht das: Leben ohne Führer, Gurus, Abhängigkeiten?
■ Der Rebell der DDR-Psychologie, Hans-Joachim Maaz aus Halle, hielt einen Vortrag in der Urania: Ängste bis zum Bürgerkrieg? DIE SEELISCHE BEFINDLICHKEIT DER NOCH-DDR-BÜRGERiNNEN
Tiergarten. Rappelvoll ist der Vortragssaal der Urania. Man drängt sich, Erkenntnisse darüber zu hören, wie die neue Situation in Ost und West psychisch verarbeitet wird, und Hans-Joachim Maaz, 47jähriger Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle, gilt als profunder Kenner der seelischen Befindlichkeit seiner Landsleute.
Maaz enttäuscht nicht. In freier, lockerer Rede trägt er die Gründe vor, warum DDR- Bürger in scheinbar paradoxer Reaktion auf die Wende in »Nervosität und Gereiztheit« verfielen. Nach der Untersuchung von rund 5.000 Patienten in den letzten zehn Jahren habe er »als eine Folge unserer politischen Verhältnisse« eine Reihe von Verformungen feststellen müssen: »Spaltung der eigenen Persönlichkeit, Gefühlsstau, Entfremdung von der eigenen Natur«. Viele Patienten seien »sehr verhalten und aggressiv gehemmt, unfähig, sich abzugrenzen, zu Autoritätspersonen nein zu sagen«.
Für ihn ist das die Konsequenz einer Art »versteckter Verschwörung aller Autoritätspersonen, nämlich Bonzen, Eltern, Pastoren, Lehrer, Ärzte«, die allesamt nach dem Prinzip handelten: »Wir sagen dir, was du zu denken hast.«
»Wir sagen dir, was du zu denken hast«
Abweichendes Verhalten sei oft mit »massiver moralischer Bedrohung« sanktioniert worden, zum Beispiel mit der demagogischen Frage: »Bist du für den Krieg oder für den Frieden?« Dieses »Entweder-oder-Prinzip« habe keinerlei Raum für Toleranz gelassen.
Von Kindesbeinen an — »und 799 von 1.000 Kindern kamen in eine Kinderkrippe, 940 von 1.000 in einen Kindergarten« — habe man also gelernt »zu leugnen, zu lügen, sich zu verstellen«. Auch Eltern hätten oft nur »als Abbild der staatlichen Verhältnisse« fungiert. Die Folge der auf allen Ebenen so knappen Zuneigung: ein allgemeines »Mangelsyndrom« und die Unfähigkeit, Gefühle auszuleben.
Bei vielen gibt es eine regelrechte Angst vor Freiheit ...
Um so mehr erlebten die Durchschnittsbürger den gesellschaftlichen Umbruch als bedrohlich. Wobei, wie Maaz zugibt, »Realängste« — wie die vor Verlust des Arbeitsplatzes oder der relativen sozialen Gleichheit — und »neurotische Ängste« nur unscharf voneinander zu trennen sind. Bei vielen gebe es jedoch eine regelrechte »Angst vor Freiheit«. Zum Beleg zitiert der Psychotherapeut eine Reihe von Aussprüchen seiner Patienten: »Wo gehöre ich jetzt eigentlich hin?« — »Ich habe Angst, plötzlich grenzenlos zu sein.« — »Ich bin entwurzelt, wie ein Emigrant im eigenen Land.«
Bei anderen äußerten sich die unterdrückten Gefühle und Ängste in neuen psychosomatischen Beschwerden: Schmerzen beim Laufen oder Beschwerden in den Ellbogen. »Da horcht jeder Psychotherapeut auf — die Assoziation zur Ellbogengesellschaft ist deutlich.«
»Bei vielen gibt es den großen Wunsch, abhängig zu bleiben«
Für die Gesellschaft insgesamt sieht Maaz ziemlich schwarz: »Bei vielen gibt es den großen Wunsch, abhängig zu bleiben«, und das gelte sicherlich auch für den Westen. Dennoch gebe es gerade zwischen Ost- und Westdeutschen immer mehr »Spannungen oder gar Haß«. Die aggressive Enttäuschung, wenn nun neue Führer oder Gurus ausbleiben, kenne er nur zu gut aus seiner Gruppentherapie. Seine Schlußfolgerung: »Wenn es keine Entladungsmöglichkeit gibt, dann gibt es Krieg. Einen ökologischen Krieg oder einen Bürgerkrieg oder einen Krieg gegen Ausländer und Fremde.«
Aufgestaute Aggression, so ergänzt er auf Gesamtdeutschland gemünzt, sei »gerade für uns Deutsche ein besonderes Problem«. Im Westen existiere dafür »nur eine andere Maske«, dort dürfe »Armut, Elend oder innerer Mangel« nicht gezeigt werden. Aber auch die Gewaltfreiheit bei ihrer sogenannten Revolution, »die eigentlich nur ein Machtwechsel war«, hatte in seinen Augen einen »starken neurotischen Einschlag«, der von den Autoritätspersonen der »neurotischen Pastoren« immer wieder verstärkt worden sei. »Und deshalb haben die meisten Gewalt mit Aggressivität verwechselt und gedacht, sie dürften nicht aggressiv sein. Also nicht schimpfen, die SED verjagen, die Macht ergreifen. Wie viel konnte die SED noch unbehelligt anstellen ...« Für Maaz ist die Parallele zu 1945 deutlich: »Am 9. November war der Prozeß der Demokratisierung zu Ende. Wir haben uns nicht selbst befreit, wir sind befreit worden.« Ute Scheub
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