DeserteurInnen-Parade durchs Brandenburger Tor

■ In Berlin, der ehemaligen Hochburg der Wehrflüchtigen, entstand ein Aktionsbündnis gegen den Wehrdienst INTERVIEW

Ab 3. Oktober hat Berlin keine alliierten Stadtkommandanten mehr, dafür aber zum ersten Mal einen Standortkommandanten der Bundeswehr — vermutlich Flottillenadmiral Klaus-Dieter Sievert. Nach 45 Jahren Wehrpflichtfreiheit werden auch die Berliner wieder zu den Waffen gerufen, die ehemalige Halbstadt ist keine Insel mehr für diejenigen Westdeutschen, die sich dem Wehr- und Zivildienst entzogen haben. Gegen die staatlichen Zwangsdienste hat sich in der Stadt der 50.000 Wehrflüchtlinge nun ein Kampagnenbündnis aus mehr als 60 Organisationen gegründet. Die taz unterhielt sich mit Christian Herz, dem Sprecher der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ (Kontakttelefon: 030/8621331).

taz: Hat euch Stoltenberg mit seinem Erlaß — alle über 25 vorerst nicht zum Bund — nicht den Wind aus den Segeln genommen?

Christian Herz: Sicherlich ist unsere Ausgangsbasis nicht mehr so günstig. Einige Opportunisten werden von der Kampagne abspringen. Aber ich kann nur vor diesem Stoltenbergschen Erlaß warnen, der die Anti-Wehrpflichtbewegung spalten soll. Außerdem soll er der Regierung ja nur Ruhe vor der Wahl bringen. Ein Erlaß ist später jederzeit rücknehmbar, beispielsweise, wenn im Sozialsystem Zivildienstleistende massenweise fehlen.

Wenn man sich die Lage im Sozialwesen ansieht, dann sind die Aussichten auf Abschaffung der Wehrpflicht eher schlecht. Auch wenn das irgendwann Dienstpflicht heißen sollte und die Frauen mit herangezogen werden.

Natürlich sind wir gegen jegliche Dienstpflichten. Man muß sich klar darüber sein, das alle Dienstpflichten letztlich aus der Wehrpflicht resultieren: Dazu gehören die Katastrophenschutz- und Notstandsgesetzgebung und ebenso das von den Konservativen geforderte soziale Pflichtjahr für Frauen. Das wird ein Schwerpunkt unserer Kampagne sein.

Wie steht ihr zur Verkürzung des Wehrdienstes?Die wird von der Regierung momentan als Abrüstungsmaßnahme verkauft, aber das ist ein klarer Betrug. Die kürzere Wehrpflicht dient nur dazu, mehr Soldaten in kürzerer Zeit durchzuschleusen. Gleichzeitig ist das ein Versuch, die Akzeptanz der Wehrpflicht wiederherzustellen und die abziehenden alliierten Kräfte durch das erhöhte Reserveaufkommen auszugleichen.

Ist die Berufsarmee für alle Mitgliedsorganisationen der Kampagne ein akzeptabler erster Schritt?

Einige Teile unserer Kampagne sind bereit, die Berufsarmee als Übergangslösung zu akzeptieren. Das ist natürlich strittig. Aber der Mehrheit ist klar, daß dieser erste Schritt zunächst der durchsetzbarere ist. Außerdem würde die Abschaffung der Wehrpflicht beinhalten, daß die Berufsarmee wesentlich kleiner wird: Der Anteil der Ausbilder von Wehrpflichtigen kann dann mit abgerüstet werden. Dieser Anteil beträgt momentan etwa 100.000 Mann.

Was wollt ihr in Berlin konkret tun?

Berlin soll der Ausgangspunkt für Kampagnen auch im Bundes- und DDR-Gebiet sein. Wir werden an alle Schulen gehen und alle StudentInnen ansprechen.

Außerdem planen wir Aktionen des zivilen Ungehorsams, Hearings im Bundestag und ein Tribunal gegen die Wehrpflicht in Berlin. Am 17. November — einen Tag vor Totensonntag — wird es eine große „DeserteurInnen-Parade“ durch das Brandenburger Tor geben. Interview: kotte