Ohrfeige für das Parteienkartell

■ Verfassungsgericht setzt ein kleines Signal in Sachen Wahlgleichheit KOMMENTARE

Wie läßt sich am besitzstanderhaltenden Kampf gegen Splitterparteien festhalten, wenn man zugleich DSU-Splitter in den Bundestag hieven, PDS und Reps möglichst aussperren und den Herbstrevolutionären den Anschein einer fairen Chance geben will? Diese Quadratur des Kreises konnte nicht gelingen. Seit vergangenem Samstag haben es die Parteistrategen höchstrichterlich beglaubigt: Ihre Wahlmanipulation ist mit demokratischer Gleichheit unvereinbar. Fünf Prozent in einem einheitlichen Wahlgebiet plus Listenverbindungen: Das ging denn doch zu weit — zumal jeder wußte, daß mit dem Konkurrenzverbot bei den Listenverbindungen allein die DSU begünstigt worden wäre. Die Richter des Zweiten Senats haben im Eilverfahren über die Klage von Grünen, Reps und PDS entschieden, daß weder das eine noch das andere der Wahlgleichheit des Grundgesetzes entspricht. Für das jetzt fällige neue Wahlgesetz ergeben sich daraus folgende Eckdaten: Sperrklauseln sind dann verfassungsgemäß, wenn sie in zwei Wahlgebieten in jeweils gleicher Höhe gelten und fünf Prozent nicht überschreiten; Listenvereinigungen sind um der Chancengleichheit der neuen DDR-Gruppierungen willen zuzulassen.

Zweifellos: Das Verfassungsgericht hat dem herrschenden Parteienkartell eine schallende Ohrfeige verpaßt und einige gesamtdeutsch bedingte, grobe Verletzungen der Chancengleichheit kassiert. Mit getrennten Wahlgebieten in Ost und West wird zunächst einmal ein räumlich angemessener Bezugsrahmen geschaffen, in dem sich der Konkurrenzkampf der Parteien unter jeweils spezifischen Bedingungen entfalten kann. Das gilt vor allem für die neuen politischen Kräfte in der DDR, die andernfalls im Sog der westdeutschen Parteiendynamik verschwunden wären. Insbesondere ihrer schwierigen Ausgangssituation tragen die Verfassungsrichter mit der Verpflichtung des Gesetzgebers auf die Zulassung von Listenvereinigungen Rechnung. Aber mit einer Fünfprozentklausel im Wahlgebiet der (ehemaligen) DDR könnten die kleinen Parteien und Bürgerbewegungen dennoch Probleme bekommen: Bündnis 90 und Grüne kamen bei der Volkskammerwahl zusammen gerade auf 4,9 Prozent. Während das Schicksal der DSU (6,3%) ungewiß ist, kann allein die PDS (16,3%) mit Bundestagsmandaten rechnen. Auch diese Sperrklauselvariante beschleunigt also den Prozeß der Parteienkonzentration — und das in einem Land, dessen Pluralismus nicht einmal ein Jahr alt ist.

Ein umfassendes Verdikt gegen den Wahlvertrag — das ist einigermaßen spektakulär. Näher betrachtet, verdient indes die Entscheidung keineswegs ungeteilte Zustimmung. Auch der Karlsruher Wahlmodus ist weit davon entfernt, demokratische Wahlgleichheit ernstzunehmen. Im Kern wurde der wahlrechtliche Status quo der Bundesrepublik auf die DDR übertragen. Dies überrascht nicht bei einem Gericht, das seit 1952 Sperrklauseln absegnet. Das eigentliche Problem liegt genau dort, wo überhaupt einer Durchbrechung der Wahlgleichheit das Wort geredet wird. Bis heute hat das Gericht kein überzeugendes Argument für diese Diskriminierung beigebracht, sondern sich formelhaft auf das Stabilitäts-Phantasma namens Regierungsfähigkeit zurückgezogen.

So wird also hüben wie drüben am 2.Dezember unter den Restriktionen des gewohnten Diskriminierungsniveaus von (vermutlich) fünf Prozent gewählt werden — um beim nächsten Mal im einheitlichen Wahlgebiet und im alten Trott fortzufahren. Dabei bietet sich für den Gesetzgeber gerade jetzt eine gute Gelegenheit, mit dem ganzen Sperrklausel-Unfug endlich Schluß zu machen. Die Karlsruher Richter mögen (bis zu) fünf Prozent für unbedenklich halten. Sie haben allerdings auch darauf hingewiesen, daß es dem Gesetzgeber freisteht, auf eine Sperrklausel zu verzichten. Was also hindert das Parlament, für die Dritte Republik ein demokratisches Signal zu setzen und mit jener formalen (und deshalb manipulationsresistenten) Lösung Ernst zu machen, die allein der Wahlgleichheit gerecht wird: Gut 70.000 Stimmen sind zwischen Greifswald und München nötig, aber auch ausreichend, um eine Abgeordnete ins Parlament zu entsenden. Dazu bedarf es keiner ausgekochten Parteitaktik, ein handelsüblicher Taschenrechner genügt. So einfach ist Wahlgleichheit. Horst Meier

Der Autor ist Publizist und Rechtsanwalt und lebt in Hamburg