Deutschland — Ein Fernsehmärchen

■ Kleiner Führer durch den TV-Vereinigungstaumel

Im traurigen Monat November wars,/die Tage wurden trüber,/der Wind riß von den Bäumen das Laub,/da reist' ich nach Deutschland hinüber./ Und als ich an die Grenze kam,/da fühlt' ich ein stärkeres Klopfen/in meiner Brust, ich glaube sogar/die Augen begunnen zu tropfen.

So wie Heinrich Heine 1844 in Deutschland — Ein Wintermärchen seine Einreise nach Deutschland beschrieb, ging es im November 1989 Hunderttausenden. Und alle, die nicht selbst hinüber oder herüber reisen konnten, hockten vor dem Bildschirm und auch ihnen tropften bald die Augen. Denn von früh bis spät bekamen sie nichts anderes als Deutschland zu sehen.

Seitdem zieht sich täglich eine schwarz-rot-goldene Spur durch die Frequenzen der öffentlich-rechtlichen Sender, die am 3. Oktober alles andere im Äther erstickt. Heute geht der Rummel schon los. Die ARD sendet um 20.15 Uhr die Ansprache, Untertitel: „Feierliche Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Lothar de Maizière“. Das noch DDR- Fernsehen DFF2 will nicht mal bis nach Acht warten und sendet die gleiche Ansprache schon um 19.50 Uhr, das ZDF erst um 21.45 Uhr.

Nach der Ansprache präsentiert uns um 20.30 Uhr die ARD den Abend vor der Einheit mit Schaltungen nach Ost und West, unter anderem ins Deutsche Schauspielhaus Berlin zum Festkonzert. Gegeben wird natürlich die 9. Symphonie von Beethoven, was sonst. Die Tagesthemen kommen selbstverständlich auch live aus Berlin, mit Bildern vom Volksfest rund ums Brandenburger Tor. Weiter geht es um 23.30 Uhr mit Deutschland um Mitternacht. Der nachfolgende Film Achterbahn um 0.45 Uhr hat nichts mit dem Vereinigungstaumel zu tun, sondern ist nur ein spannender US-Thriller in dem ein Bombenleger in amerikanischen Vergnügungsparks sein Unwesen treibt.

Beim ZDF schlägt Die Stunde vor der Einheit schon um 19.30 Uhr natürlich wird auch der Beethoven-Evergreen übertragen und dazu gibt's Reportagen und Interviews. Dann heute-journal und um 23.00 Uhr geht's weiter. Vom Schöneberger Rathaus wird das Geläut der Freiheitsglocke übertragen, Militärkapellen der Siegermächte musizieren, Flaggenzeremonie und um Mitternacht großes Feuerwerk.

Auch in den dritten Programmen gibt es haufenweise Ansprachen, Gespräche und Berichte. Die Privaten halten sich heute noch zurück. Sat.1 bringt allerdings um 22.55 Uhr Die Nacht zur Einheit und gleich im Anschluß Die außerirdischen Besucher kommen zurück. Die Nachtgedanken sind dann schon Morgengedanken denn es wird 2.50 Uhr bevor Kuli lesen kann.

Mittwoch dann, am 3. Oktober, ist die Deutsche Demokratische Republik Geschichte. Schon früh um 6.00 Uhr wird das im Frühstücksfernsehen auf allen Kanälen gefeiert: Hallo Europa — Guten Morgen Deutschland. Um 11.00 Uhr übertragen ARD und ZDF den Staatsakt in der Berliner Philharmonie. Danach geht es weiter mit Deutschland einig Vaterland, es wird viel geredet werden von historischen Augenblicken, bewegenden Tagen und vom glücklichen Volk. Abends startet dann um 20.15 Uhr in der ARD der Große deutsche Abend, „ein unterhaltsames Kaleidoskop aus Musik, Interviews, Auslandsberichten und Erinnerungen an 45 Jahre Trennung zwischen Ost und West“, mit vielen prominenten Gästen. Die Tagesthemen kommen wieder live aus Berlin und auch Kennzeichen D im ZDF widmet sich ganz dem Tag der Einheit. Um 20.15 Uhr bringt das Zweite dann die deutsch-deutsch Komödie Schulz & Schulz von Krystian Martinek mit Götz George in einer deutsch-deutschen Doppelrolle. Dann um 22.25 Uhr eine Überraschung im ZDF: Das Kulturmagazin Aspekte beschäftigt sich nicht mit den Deutschen. Ihr Bericht von der Frankfurter Buchmesse 1990 hat als Schwerpunktthema Japan. In den dritten Programmen und im ehemaligen DDR-Fernsehen gibt es Fußball. Genauer: Spielberichte von den Rückspielen der 1. Runde im Europapokal.

Stern-TV auf RTLplus hingegen berichtet vom „ersten Tag im neuen Deutschland“ und hat dazu als Studio-Gast Rita Süssmuth eingeladen. Günther Jauch will versuchen von ihr etwas über „die Perspektiven der deutschen Einheit“ zu erfahren. Um 22.50 Uhr gibt es auf dem gleichen Kanal den Tanz der Vampire. Es handelt sich aber nicht um eine Dokumentation über den Freudentanz des deutschen Großkapitals Unter den Linden sondern um Roman Polanskis Gruselklassiker. Auch der nachfolgende Krimi Eine verhängnisvolle Nacht hat nichts mit der deutschen Einheit zu tun.

Auf West3 gibt es um 21.40 Uhr einen Leckerbissen. Alfred Tetzlaff kommt wieder. Ausgestrahlt wird die Folge „Besuch aus der Ostzone“ aus der Serie Ein Herz und eine Seele. Ebenfalls zu empfehlen ist Tabula rasa um 23.35 Uhr auf 3sat. Hanns Dieter Hübsch gibt uns in 43 Minuten scharfzüngig eine Unterrichtsstunde in Deutscher Geschichte. kweg