Demokratisierung wird ersetzt durch Vereinigung

■ taz-Gespräch mit Wolfgang Leonhard, Historiker und Stalinismusexperte — und Autor des Buches „Die Revolution entläßt ihre Kinder“

Wolfgang Leonhard wurde 1921 in Wien geboren als Sohn der kommunistischen Schriftstellerin Susanne L. und des linken Schriftstellers und Dichters Rudolf L.. Anfang der 30er Jahre kurze Schulzeit in Berlin; 1935 Emigration mit der Mutter nach Moskau, die im Zuge von „Säuberungen“ 1936 verhaftet und für zehn Jahre nach Workuta verbannt wurde. W.L. wurde in verschiedenen sowjetischen Schulen erzogen, ab 1942 Komintern-Schule in Kuschnarenko. Von 43 bis 45 Mitarbeiter des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ in Moskau, Rückkehr nach Berlin mit der „Gruppe Ulbricht“; von 47 bis 49 Dozent an der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow. 1949 floh er nach Jugoslawien, seit 1950 lebt er in der BRD. Mehrere Studien- und Forschungsaufenthalte in Oxford und an der Yale Universität/USA.

taz: Welche Gefühle haben bei Ihnen die Veränderungen in der DDR ausgelöst?

Wolfgang Leonhard: Eine tief empfundene Freude, daß es den Menschen in der DDR gelungen ist, in wenigen Monaten das gesamte System umzustülpen und eine große Revolution zu vollziehen. Andererseits empfinde ich aber auch eine Traurigkeit darüber, daß dieser Prozeß der Demokratisierung seit diesem Frühjahr de facto abgebrochen worden ist, ersetzt wurde durch eine schnelle Vereinigung.

Im Vorwort zu Ihrem neuen Buch „Das kurze Leben der DDR“ schreiben Sie, Sie hätten gehofft, daß nach dem Herbst 1989 die DDR mehr Zeit gehabt hätte, sich zu einer Demokratie in der „ihr gemäßen Art“ zu entwickeln. Was meinen Sie damit?

Die Grundziele der Demokratie, des Pluralismus, der Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftlicher Verhältnisse sind überall weitgehend ähnlich. Die Formen, in denen sich das mit Leben füllt, sind äußerst unterschiedlich. Ich hatte gewünscht, daß die Menschen, die 40 Jahre SED- Diktatur hinter sich haben, diese Lebenserfahrung auch zum Ausdruck bringen könnten. Daß eben nicht eine Kopie der Bundesrepublik entsteht.

... sondern was genau?

Ich hatte gehofft, daß die DDR- Reformer genau die Reformentwicklung in der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarns verfolgen. Und die Erfahrung der Bundesrepublik mit 40jähriger parlamentarischer Demokratie aufnehmen und überlegen, wie sie das bei sich verwirklichen könnten. Dabei würde sich naturgemäß Verschiedenheiten ergeben, zum Beispiel wären die politischen Parteien nicht mit denen der Bundesrepublik identisch. Die weltanschaulichen Grundzüge sind sicher international gleich, also konservativ, christlich-demokratisch, liberal, sozialdemokratisch, sozialistisch und grün. Doch wie sich das praktisch manifestiert, wäre sehr unterschiedlich gewesen. Ich hätte mir vorgestellt, daß man vielleicht mehr Referenden und Volksentscheide gemacht hätte, es mehr Bürgerbewegungen gegeben hätte, daß man nicht die idiotische Fünf-Prozent-Klausel übernimmt, sondern den kleineren Parteien größere Chancen gibt, daß im Bereich der Wirtschaft, des Sozialen, der Bildung eigenständige Gedanken verwirklicht würden.

Worin unterscheiden sie sich?

Die unterschiedlichen politischen Gruppierungen der DDR stehen vor der Aufgabe, eine 40jährige Diktatur in ein neues System des Pluralismus, der Menschenrechte, der demokratischen Freiheiten, des Rechtsstaates, der Marktwirtschaft umzugestalten. Das sind doch ganz andere Aufgaben, als sie die politischen Kräfte der Bundesrepublik haben.

Das ist wohl ein Prozeß, der mit etwas Glück in Polen oder Ungarn stattfinden kann. War das wirklich möglich bei Zwillingsstaaten, bei den „zwei Staaten einer Nation“?

Ich habe es angenommen, weil die Trennung der DDR-Deutschen und der Bundesdeutschen ja nicht 1949, sondern '45 begonnen hat. Das heißt, die Trennung bestand fast 45 Jahre, also länger, als die Weimarer Republik und die Hitler-Diktatur zusammen. Und das ist sogar um einige Monate länger als das deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918. Eine so lange Trennung von zwei, drei Generationen hätte dazu führen können, daß es zwei demokratische deutsche Staaten gibt, die in freundschaftlicher Kooperation gemeinsam eine Reihe von Wirtschaftsproblemen lösen, die die Stacheldrahtmauer überwinden, um so eine menschliche Wiedervereinigung zu gewährleisten, aber eben nebeneinander existieren. Also menschliche Wiedervereinigung: Ja. Staatliche Wiedervereinigung: Nein.

Sehen Sie diesen Vereinigungsprozeß durch die Bundesregierung forciert?

Ja. Ich höre von früh bis abends, daß dieser meiner Meinung nach überhastete Prozeß von der DDR- Bevölkerung aufgezwungen worden sei. Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen. Es hat ganz vorübergehend, Februar und März, einen Einheits-Rausch gegeben, der ja auch bei den Wahlen vom 18.März seinen Ausdruck fand. Doch seit Anfang Mai habe ich statt dem Drängen der DDR-Bevölkerung zunehmend Skepsis, Furcht und Unsicherheit vernommen.

Aber sind nicht immer wieder die niedergeschrieen worden, die in der DDR darauf gedrängt haben, sich mehr Zeit zu nehmen, den eigenen Weg zu finden?

Wo?

Zum Beispiel in Leipzig, bei den großen Demonstrationen, die dann umgeschlagen waren in Demonstrationen für die deutsche Einheit. Wenn dort Gruppen auftraten, die den eigenen Weg gehen wollten, hieß es: 'Rote raus‘. War dieses Niederbrüllen nicht auch eine authentische Äußerung der DDR-Bevölkerung?

Ja und Nein. Es war nur ein Teil der Bevölkerung, und ich glaube, nicht der repräsentative. Vor allem aber hat sich seit Ende April alles total verändert, so daß der angebliche Druck der DDR-Bevölkerung für mich sehr zweifelhaft ist.

Ein wichtiges Kapitel der DDR ist jetzt sicher die Vergangenheitsbewältigung. Es stellt sich die Frage, wie gehen die Bürger mit der Tatsache um, daß ein Großteil von ihnen im repressiven Apparat mitgemacht hat und nicht nur mitgemacht, sondern auch in Funktionen war, der Stasi aktiv zugearbeitet hat. Wie sollte die DDR Ihrer Meinung nach mit diesem Kapitel umgehen?

Durch Aufarbeitung, nicht durch einen Rachefeldzug. Möglichst wenig Personalisierung und mehr Betrachtung dessen, was dem System zugrunde lag, durch Offenlegung, Rehabilitierung der unschuldig Verurteilten. Ich würde eine Aufarbeitung wünschen, die nicht einfach Tafeln entfernt und Straßen umbenennt.

Vielfach drängt sich der Eindruck auf, daß es überhaupt nicht gewünscht wird, über die Vergangenheit zu reden. Im Gegenteil will man über das reden, was jetzt, im Umbruch, ansteht oder morgen sein wird.

Ich habe eine total andere DDR erlebt. Ich habe zum Beispiel vor Lehrern in Ostberlin, Leipzig, Dresden die Geschichte von 1945 bis 49 dargelegt und unglaublich interessierte Zuhörer gefunden, mit starken Diskussionen und mit dem tiefempfundenen Wunsch, jetzt herauszubekommen, wie das ganze eigentlich entstanden ist.

Aber auch in der DDR hat es einen sehr deutlichen Widerstand gegeben, weit über den von mir hochverehrten Robert Havemann hinaus. Es hat Menschen gegeben, die nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei unter Gefahr für Beruf, Freiheit und Leben dagegen protestiert haben. Auf diese Opposition hinzuweisen, erscheint mir ebenfalls dringend notwendig.

Jedenfalls ist die Frage, daß viele mitgemacht haben, vom Westen aus nicht zu entscheiden. Das muß man selbst erlebt haben. Menschen, die in einer Demokratie aufgewachsen sind, können sich diese Dinge nicht vorstellen. Das ist auch ein Grund, warum ich lieber eine eigenständige Entwicklung der DDR gesehen hätte.

Was wird denn geschehen, wenn es nicht zu einer Aufarbeitung der Geschichte kommt?

Das wird zu unglaublichen psychologischen Schwierigkeiten führen. Wenn man etwas nicht aufarbeitet, bedeutet es für einen Menschen eine Katastrophe, und für 16 Millionen Menschen eine 16-Millionen-fache Katastrophe. Die Geschichte zeigt aber, daß man nicht auf ewig etwas unter den Teppich kehren kann. Es wird dann, vielleicht eine Generation später, plötzlich zum Ausbruch kommen. Und zwar viel ernster als das, was in den 60er Jahren in der Bundesrepublik, in der ja auch alles verdrängt worden war, geschah.

Diese in der DDR genossene Staats- oder Zwangserziehung geht ja nicht ungeschoren an den Menschen vorüber. Wie wird vor diesem Hintergrund die Umgestaltung der Gesellschaft aussehen?

Ich sehe die DDR nicht nur als Sonderfall, sondern als ein Teil des gesamten Reformprozesses von der Elbe bis Wladiwostok. Wir erleben da immer wieder dieselbe Situation, dieselben Schwierigkeiten. Der Prozeß des Übergangs von einem bürokratisch-diktatorischen System zu einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft ist äußerst schwierig durchzuführen. Da tritt teilweise eine Flucht vor den Schwierigkeiten der Umgestaltung ein, die Suche nach etwas Festem in der eigenen Tradition, die im Nationalgefühl mündet. Das erleben wir in der Sowjetunion, in Jugoslawien, in vielen osteuropäischen Ländern.

Was bedeutet das in bezug auf die DDR?

Der einzige Unterschied ist der, daß in bezug auf die DDR noch eine Bundesrepublik da ist. Aber eine Flucht in das Nationalgefühl gibt es in all diesen Demokratisierungsbewegungen.

In den Republiken der Sowjetunion war ja das Nationalgefühl bislang unterdrückt. So läßt sich zum Teil jetzt auch die verstärkte Rückkehr in den Nationalismus erklären. Das war ja in der DDR nicht der Fall, sie durften Deutsche sein.

In der DDR wurde der Versuch gemacht, einen sozialistischen Staat deutscher Nation zu schaffen. Eine DDR-Nationalität wurde ganz deutlich auch aufgezwungen.

Wie erklärt sich dann bei aller Erziehung zum Internationalismus, die ja offiziell zu diesem System gehörte, dieser Fremdenhaß, der im Augenblick mit hochkommt?

Es war kein echter Internationalismus, sondern ein künstlich aufgepfropfter, verfälschter. Jeder in der Sowjetunion wußte trotz aller offiziellen Völkerfreundschaft: die führende Kraft waren die Russen. Man pflegte Freundschaft auch immer nur mit den Staaten des Warschauer Paktes oder mit Staaten, von denen man hoffte, daß sie einen ähnlichen Weg gehen.

Es gibt einen zweiten Aspekt. Ich bin der Meinung, daß das bürokratisch-diktatorische System in der Sowjetunion und in den ost- und mitteleuropäischen Ländern ein Industriefeudalismus war. Das war ein Nachhinken, eine feudale Struktur. In der Sowjetunion spricht man mit Recht vom Feudalsozialismus. Was jetzt vor sich geht, erinnert in vielem an die bürgerlichen Revolutionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und diese waren ja auch gleichzeitig eine Besinnung auf die Nation, so daß wir das heute verspätet erleben.

Sie sagen, man solle die DDR innerhalb der östlichen Systeme nicht isoliert betrachten. Nun ist aber doch ein deutlicher Unterschied zu verzeichnen: In Ländern wie Polen und der CSFR zumindest sind bedeutende Dissidenten jetzt an Regierungen beteiligt oder sie spielen eine wichtige Rolle. In der DDR dagegen sind die Bürgerbewegungen und wesentliche Exponenten derer, die die Revolution weitgehend bewirkt haben, nun völlig außen vor.

Die Grundtendenz ist trotz allem ähnlich, nämlich daß in allen mittel- und osteuropäischen Ländern die Linke sehr schwach und der Begriff Sozialismus diskreditiert ist, für die vielen Völker und Nationen der Sowjetunion, für Polen und die Tschechoslowakei, für Ungarn, für Bulgarien. Der einzige Unterschied besteht darin, daß es in einigen Ländern eine größere Dankbarkeit gegeben hat für diejenigen, die von Anfang an in der Opposition waren. In der CSFR Vaclav Havel und Alexander Dubcek, in Polen die Solidarnosc- Leute. In der DDR existiert tragischerweise eine ähnliche Dankbarkeit für die Initiatoren dieser Bewegung fast gar nicht.

Sie haben sich seinerzeit deutlich gegen den Wandel durch Annäherung ausgesprochen. Dann aber sagen Sie im Nachwort Ihres 1980 neuaufgelegten Buches „Die Revolution entläßt ihre Kinder“, „die Ost-West-Entspannung und die Liberalisierung im Osten sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander“. War nicht Wandel durch Annäherung auch Entspannung?

Wandel durch Annäherung war eine These, die beinhaltete: Wenn sich die demokratischen Länder des Westens den östlichen Systemen annähern und aufhören, diese Systeme ständig zu kritisieren, werden sich die Führungen dieser Länder nicht mehr als Verfolgte und Bekämpfte fühlen, sondern Ruhe und Sicherheit ausstrahlen. Und wenn sie sich sicher fühlen, werden sie das System lockern, den Menschen größere Freiheiten geben. Diese Theorie halte ich für den schlimmsten Irrglauben, denn je mehr sich der Westen angenähert hat, umso sicherer wurden die Führer im Osten, Gierek in Polen, Honecker in der DDR, Breschnew in der Sowjetunion, Schiwkow in Bulgarien, Husak in der Tschechoslowakei. Je sicherer sie sich fühlten, desto autoritärer und unterdrückender wurde das Regime. Ich habe immer das Umgekehrte verlangt und darauf hingewiesen, daß diese Führungen überhaupt nur zu Reformen bereit sein würden, wenn sie unter ökonomisch-technologische Sachzwänge gerieten, wenn der Druck der Bevölkerung zunähme. Nur dann würden sie sich verändern, und zwar in der Regel durch Spaltung in einen orthodoxen und einen reformerischen Flügel. Nur im Zuge solcher Reformen hätte sich der Westen annähern sollen. Und daher war ich immer dafür, Entspannung und Demokratisierung und Menschenrechte zu verbinden, sich deutlich zu solidarisieren mit der Charta 77 in der Tschechoslowakei, mit den Anhängern Sacharows in der Sowjetunion, mit Robert Havemann in der DDR, mit Solidarnosc in Polen. Weil es demokratisch und moralisch das Anständigste und realpolitisch das Vernünftigste gewesen wäre.

Aber trotz der laufenden Kontakte auf Regierungsebene — Sie haben ja insbesondere gegen Egon Bahr polemisiert — ist es dennoch zum Wandel in Osteuropa gekommen.

Aber eben nicht, alles andere wäre Lüge, durch die Entspannungspolitik der 70er Jahre. Im Gegenteil: Die Reformbewegung begann durch die zunehmenden innenpolitischen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und durch die wachsende Rüstungslast, die nicht mehr zu tragen war. Das Techtelmechtel der Regierungen des Westens hat den Prozeß nur verzögert.

Zurück zur DDR. Herr Leonhard, ist für Sie die PDS eine Nachfolgepartei der SED?

Ja und nein. Ja, weil die SED/ PDS, später nur als PDS bezeichnet, in der eindeutigen Absicht gehandelt hat, das riesige Parteivermögen zu retten und viele der alten SED-Leute in diese neue Partei hinüberzuretten. Trotzdem zögere ich, die PDS nur als eine Nachfolgeorganisation der SED zu bezeichnen, weil ich feststellen mußte, daß es sehr viele junge Menschen gibt, die erst jetzt in die PDS eingetreten sind. Zu einer Zeit also, als sie Oppositionspartei geworden ist. Sie betrachten sie als eine Art linke Heimatpartei, die die DDR vor der Vorherrschaft durch die Bundesrepublik schützt.

Bei der Frage, ob Nachfolgeorganisation oder nicht, sollte man auch Folgendes bedenken: Im Herbst 1989 hatte die SED 2,3 Millionen Mitglieder, die PDS hat heute 350.000. Das heißt, die überwältigende Mehrheit der gesamten alten SED ist weg, und von der geringen Zahl der 350.000 sind mindestens die Hälfte neue Leute.

Ich halte die gängige bundesdeutsche Einordnung der PDS als Nachfolgeorganisation der SED für äußerst bequem. Dieselben Leute, die Erich Honecker, als er am 10.September 1987 in die Bundesrepublik kam, auf widerliche Art hofiert, mit Axen ein Ideologiepapier geschrieben haben und ähnliches, stellen sich heute hin und verurteilen die PDS. Das ist wahnsinnig billig. Jetzt die PDS zu verteufeln, ist der Versuch, sich der Verantwortung der Kungelei mit der SED-Führung zu entziehen.

Die Frage geht eher dahin: Wie kann es einer Partei gelingen, die Geschichte, die sie hinter sich hat, einfach abzustreifen?

Ich glaube an die Fähigkeit der Menschen, sich zu wandeln. Ich habe die Wandlung der italienischen Kommunistischen Partei von einer stalinistischen zu einer demokratisch-sozialistischen Partei sehr bewußt miterlebt, im Prager Frühling haben wir die Wandlung von Menschen gesehen. Ich selbst habe mich gewandelt und viele meiner Freunde haben sich sehr ernst und tief gewandelt. Es ist eine andere historische Situation, die PDS kann nicht mehr die früheren Methoden benutzen, dazu hat sie gar nicht mehr die Macht.

Aber das Vermögen.

Auf jeden Fall ist die PDS nicht dasselbe wie die diktatorische Staatspartei SED.

Trotz aller Skepsis, verbinden Sie auch Hoffnungen mit der deutschen Einheit?

Meine Hoffnungen sind erstens, daß die neuen Länder soviel Selbständigkeit erhalten wie möglich, bestimmte abweichende Vorstellungen zu vollziehen und damit den Übergang zu erleichtern. Und daß es nicht zu plötzlichen Enttäuschungen kommt, denn plötzliche Enttäuschungen führen oft zu irrationalem Radikalismus.

Ich hoffe auch, daß jegliche nationale Überheblichkeit und Arroganz vermieden wird. Es ist ja nicht zu übersehen, daß ein einheitliches Deutschland dann fast 80 Millionen Menschen umfaßt. Und ich wünsche, daß die Deutschen sich das Ziel setzten, europäische Durchschnittsdemokraten zu sein, nicht besser und nicht schlechter als alle anderen Demokraten Europas auch. Mein letzter Wunsch wäre, daß ein vereinigtes Deutschland sich der schwierigen internationalen Situation bewußt ist, einerseits dem westlichen Bündnis verhaftet, gleichzeitig aber Partner der Sowjetunion zu sein. Das erfordert Fingerspitzengefühl und Sachkenntnis. Zum Gespräch mit der Sowjetunion gehört auch das, was in Deutschland immer noch ein Tabu ist, in der Sowjetunion aber immer mehr diskutiert wird: Ein Vergleich zwischen dem Hitler- und dem Stalinsystem.

Was mich besorgt macht bei der so überhasteten Vereinigung Deutschlands ist ja dies, daß anfangs versprochen worden wurde, die deutsche Einheit werde synchron mit der europäischen vollzogen werden. Jetzt haben wir die deutsche Einheit, nicht aber die europäische.

Das Gespräch führten

Barbara Geier und Anna Jonas