Unvoreingenommene Benjamin-Forschung?

■ betr.: "Europäische und sowjetische Kunst" (Ein hier bisher unveröffentlichtes Interview mit Walter Benjamin), "Walter Benjamin in Moskau" (Eine wichtige Ergänzung zum "Moskauer Tagebuch"), taz vom...

betr.: „Europäische und sowjetische Kunst“ (Ein hier bisher unveröffentlichtes Interview mit Walter Benjamin), „Walter Benjamin in Moskau“ (Eine wichtige Ergänzung zum „Moskauer Tagebuch“), taz vom 26.9.1990

[...] Benjamins Interview über „Europäische und sowjetische Kultur“, das er 1926 in Moskau gegeben hat, wurde hier von Sabine Schiller-Lerg mit dem Anspruch es „zum ersten Mal im Westen veröffentlicht“ zu haben, vorgestellt. Die Benjamin-Forscherin äußert ihr Erstaunen und Befremden darüber, daß dieser Text „bislang nicht gefunden wurde“ und auch der 1989 erschienene Nachtragsband der „Gesammelten Schriften“ nicht erkennen lasse, „daß nochmals danach gesucht worden wäre“. Und das, wo doch die russischen Archive jetzt zugänglich seien! Den Grund solcher Schlamperei der Frankfurter Herausgeber, die „offenbar nicht so gründlich wie üblich recherchiert“ hatten, kennt man in der „unvoreingenommenen Benjamin-Forschung“ seit langem: Stammt doch der Text „aus einer Phase seines [Benjamins] Lebens, die ohnehin nicht allzu ausführlich dokumentiert werden sollte“.

Das Erstaunliche an diesen Unterstellungen, die mit Forschung gar nichts, wohl aber manches mit voreingenommenem Lesen zu tun haben, ist nun nicht, daß das Interview bislang nicht gefunden war, sondern daß Frau Schiller-Lerg es erst jetzt gefunden hat. Hätte sie weniger voreingenommen und wenigstens „so gründlich wie üblich“ in dem Nachtragsband der „Gesammelten Schriften“ geblättert, hätte sie zwar keine Anzeichen einer nochmaligen Suche nach dem Text gefunden, wohl aber diesen selbst. Er ist auf den Seiten 879 bis 881 des siebten Bandes der „Gesammelten Schriften“ zu lesen. Wahr ist, daß man ihn schon 1989 nicht mehr suchen mußte, sondern ihn einfach in der Übersetzung von M.Dewey nachdrucken konnte, der Benjamins Interview bereits 1985 in der ‘Zeitschrift für Slawistik' publiziert hat. Christoph Gödde, Theodor W.Adorno Archiv,

Frankfurt am Main

Anmerkung der Autorin:

Das in der taz veröffentlichte Interview Walter Benjamins mit der 'Vecernjaja Moskva‘ ist eine neue Übersetzung nach dem Originaltext, wie er am 14.1.27 in der russischen Zeitung erschienen ist. Die Herausgeber der „Gesammelten Schriften Walter Benjamin“ haben sich damit begnügt, die Übersetzung aus einer deutschen slavistischen Fachzeitschrift von 1985 zu zitieren, ohne sich auf das Original zu berufen und wie sonst üblich, zugleich mitabzudrucken. Um die Unterschiede in den Übersetzungen mögen sich Slawisten kümmern.

Daß es sich bei dem in der taz abgedruckten Text um eine neue Übersetzung nach dem mir vorliegenden Zeitungsoriginal handelt, habe ich gegenüber der Redaktion der taz und ihrer Leserschaft nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Das bedauere ich sehr. Freilich bin ich der Auffassung, daß die taz für Benjamin-FreundInnen und -ForscherInnen benutzerfreundlicher und in jeder Hinsicht zugänglicher ist, als die Frankfurter Ausgabe der „Gesammelten Schriften Walter Benjamin“ — vor allem billiger. Sabine Schiller-Lerg