Ein marxistisches Stigma?

■ oder: Der Versuch, eine unliebsame Vergangenheit loszuwerden DDR-Klassenprimus will Abschlußzeugnis manipulieren

Berlin (taz) — Ein junger Mann aus Ostdeutschland (ehemals DDR), angehender Student für Elektronik, bewirbt sich bei verschiedenen Westberliner Firmen für ein Praktikum. Nach der zweiten, nicht näher begründeten Absage, kann sich der einstige Klassenprimus (sein Abitur hat er vor zwei Jahren mit einer glatten Eins hingelegt) nur eine Ursache denken: In seinem Abgangszeugnis wird ihm lobend eine „marxistisch- leninistische Weltanschauung“ bescheinigt. Das Prädikat, einst für eine erfolgreiche Karriere zumindest förderlich, scheint ihm nun eher lästig zu sein. Er möchte es deshalb schleunigst aus seinem Zeugnis getilgt haben.

Mit einer entsprechenden Bitte wendet sich der junge Mann an die Direktorin seiner ehemaligen EOS (Erweiterte Oberschule). Die hat zwar prinzipiell Verständnis für sein Anliegen, nimmt aber erst einmal Rücksprache mit dem zuständigen Bildungsdezernenten. Jener lehnt eine solche „Urkundenfälschung“ rundweg ab. Die Direktorin bedauert — sie könne sich keine Unkorrektheiten leisten, da sie als PDSlerin sowieso auf der Abschußliste stehe.

Im LehrerInnenkollegium entspinnt sich eine Kontroverse darüber, ob die neuen Zeiten einen korrigierenden Eingriff in Dokumente einer überholten Epoche erlauben, oder sogar notwendig machen. Ein alter Geschichtslehrer, seit Jahrzehnten an der Schule, einst Mitglied der Blockpartei NDPD und als Zuchtmeister gefürchtet und verschrien, macht sich zum größten Fürsprecher des ehemaligen Schülers. Schließlich könne man einem jungen Menschen durch solche früheren Verfehlungen nicht die Zukunft verbauen. Eine jüngere Lehrerin, neu an der Schule und der BürgerInnenbewegung nahestehend, ist strikt dagegen, daß nun jedeR nach Gutdünken in seinen/ihren Urkunden herumfälschen (lassen) dürfe, bloß weil das, was jahrzehntelang als gut und richtig galt, jetzt verpönt ist. Sie gibt zu bedenken, das solche und ähnliche Beurteilungen die Zeugnisse von zigtausenden von SchülerInnen der ehemaligen DDR zieren. „Wo fangen wir an und wo hören wir auf?“.

Die Lehrerin bezweifelt im übrigen, daß es die „marxistisch-leninistische Weltanschauung“ war, mit dem sich der Bewerber die Abfuhr einhandelte. Sie weiß, das in Westdeutschland BewerberInnen manchmal 50 und mehr Schreiben losschicken und genauso oft abgelehnt werden. Sie weiß außerdem, daß ausländische Jugendliche immer wieder ihre Bewerbungsschreiben ungeöffnet zurückbekommen, mit der Anmerkung: Ausländer unerwünscht.

So gesehen wäre der „marxistische“ Bewerber noch zuvorkommend behandelt worden... Ulrike Helwerth