»Ich will meine Stasi-Akte haben!«

■ Ostberliner fielen auf gefälschtes Abholformular für ihre Stasi-Akten herein/ Trotz eines Dementis riß der Menschenstrom in der Ruschestraße nicht ab

Lichtenberg. »Das Formular, das Sie erhalten haben, ist eine Fälschung! Lesen Sie bitte die Erklärung von Innenstadtrat Krüger!« Wolfgang Rüddenklaus von der Stasi-Mahnwache in der Ruschestraße schreit sich die Kehle heiser. Alle fünf Minuten wiederholt er den gleichen Satz und reicht das einzige vor Ort vorhandene Exemplar von Krügers Dementi herum. Doch immer wieder kommen neue Leute hinzu, die auf Grund eines gestern früh vorgefundenen »amtlichen« Formulars Einblick in ihre Stasi- Akte nehmen wollen.

In der vorletzten Nacht hatten Unbekannte Tausende dieser »Formblätter« in Ostberliner Briefkästen gesteckt (siehe Faksimile). Ihre Echtheit wurde von den meisten nicht bezweifelt — denn bis hin zur miserablen Papierqualität glichen sie in ihrem Aussehen jener Art von amtlichen Formularen, die die Ostberliner seit langem gewöhnt waren. »Seit heute morgen um sieben geht das nun schon so«, sagt Rüddenklaus lakonisch und fügt mit etwas Galgenhumor hinzu: »Man kommt sich langsam vor wie eine Schallplatte.« Nicht ganz so gelassen nehmen es die vielen Betroffenen hin, die den ganzen Tag an den Ständen der Mahnwache drängeln.

Zwar hatten offizielle Stellen schon bald nach Bekanntwerden der »Aktenaktion« über Rundfunk und Fernsehen darauf hingewiesen, daß es sich um eine Fälschung handelt, doch der Strom reißt nicht ab. Hannelore P. aus Prenzlauer Berg ist empört: »Ich finde das eine absolute Frechheit! Ich meine, man weiß ja nicht, ob man hier überhaupt eine Akte hat. Doch dann findet man so ein Formular im Kasten und will endlich mal nachschauen — und dann stimmt das alles gar nicht!« Auch Klaus Sch. ist verärgert: »Ich bin sauer. Wie lange sollen wir uns denn noch verarschen lassen. Schließlich hatten die mich hier lange genug eingebuchtet. Ich will endlich meine Akte sehen!« Nicht ganz so verbissen sieht es Horst F.: »Ich hab' mir gleich gedacht, daß das ein Männerulk ist. Erstens war da kein Absender drauf, zweitens steht da Frankfurter Allee und nicht Ruschestraße, und drittens glaubt doch wohl niemand im Ernst, daß wir jemals unsere Akten zu Gesicht bekommen werden.«

Am späten Nachmittag dann trommelt ein sichtbar erregter Mann gegen das Eingangstor und versucht es — erfolglos — zu überklettern. Die verängstigte Torwache alarmiert die Polizei. Bald schon erscheinen sechs »Wannen«. Ein Raunen geht durch die Menge: »Das sind ja alles Westbullen!« Drei Uniformierte stürmen auf das Tor zu — doch der Mann ist schon längst verschwunden. Trotzdem ziehen die »Wannen« nicht ab. Sofort bildet sich eine Menschentraube um das martialische Polizeiaufgebot. Und während die einen ihre »Aufforderung« den Beamten vorweisen, demonstrieren andere deutlich ihren Widerwillen gegen die noch immer fremden Uniformen. Es dauert eine Weile, bis die Polizisten begreifen, daß es hier zu keinerlei Gewalttätigkeiten gekommen ist, und sie wieder abziehen.

Und schon kommen die nächsten Ex-DDRler, die ihre Akte sehen wollen. Der Strom reißt nicht ab. Olaf Kampmann