Ein Stipendium für Hermann Kant?

Bericht von einem Literatursymposion  ■ Von Hans Christoph Buch

Vor kurzem nahm ich an einem Gespräch zu Fragen der Literaturförderung teil, zu dem das Literarische Colloquium Experten aus Ost- und Westdeutschland nach Berlin eingeladen hatte: Hartmut Vogel vom Bonner Innenministerium und Dieter Lange vom Kulturministerium der DDR, den VS- Vorsitzenden Uwe Friesel und den Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbands Rainer Kirsch, Gerhard Dette vom Deutschen Literaturfonds in Darmstadt und Hubert Witt vom Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig, Herbert Wiesner vom Literaturhaus Berlin und Dieter Pforte vom Berliner Senat, den Verleger Roland Links und den Herausgeber der Zeitschrift 'Neue Deutsche Literatur‘, Werner Liersch, die Redakteure Hajo Steinert (DLF) und Claus- Ulrich Bielefeld (SFB), dazu die Schriftsteller Gert Neumann, Richard Pietraß, Yaak Karsunke und Gerhard Wolf; die Gesprächsleitung hatte der Kritiker Reinhard Baumgart übernommen. Was ist unter dem Strich dabei herausgekommen? Außer drei bis vier Millionen Mark, die im nächsten Jahr für Literaturförderung ausgegeben werden sollen, nicht viel.

Aber ich will mich nicht als vogelfreier Autor aufspielen und über die Borniertheit der Bürokratie klagen, eine populäre Melodie, die so eingängig ist, daß man ihre falschen Töne überhört. Ohne Bürokratie nämlich, d.h. ohne den Staat als Förderer schwer verkäuflicher Literatur, stünde es schlecht um die Überlebenschancen der Schriftsteller auf dem freien Markt, auch wenn die wenigen, die vom Schreiben leben können, auf öffentliche Mittel nicht angewiesen sind; das darwinistische Prinzip der natürlichen Auslese hilft hier nicht weiter, denn im Kampf um höhere Einschaltquoten zieht Arno Schmidt allemal den kürzeren gegen Konsalik oder Simmel.

So weit, so gut. Kritisch wird es erst, wenn der Hunger der Apparate nach immer neuen Förderungsobjekten dazu führt, daß der Zusammenbruch des SED-Regimes nur noch als technische Panne wahrgenommen wird, die mit dem üblichen Schmiermittel, nämlich mehr Geld, zu beheben ist. „Stell' dir vor, die Mauer fällt, und alle reden nur vom Geld.“ Die, zumindest von den Bürgern der DDR gewollte, Einheit erscheint dann als Katastrophe oder Kalamität, deren soziale Folgen von der öffentlichen Hand abgefedert werden müssen: Kulturförderung als Instrument der Schadensbegrenzung. Aus der wertfreien Sicht eines Verwaltungsexperten ist alles förderungswürdig, was der SED-Staat auf kulturellem Gebiet hinterlassen hat, nur nicht die dazugehörige Ideologie; der schüchterne Hinweis, daß Institutionen wie die DDR-Verlage, der Schriftstellerverband oder das Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig nicht nur der Förderung von Literatur dienten, sondern auch ihrer Verhinderung — sprich Zensur —, wird in diesem Kontext als störend empfunden. Da niemandem Arbeitslosigkeit zuzumuten ist, bleiben die leitenden Kader, die jahrzehntelang Schriftsteller und Leser der DDR gegängelt und bevormundet haben, an den Schalthebeln der Macht: Die neuen Machthaber sind die alten.

Zwischen den Herrschenden in Bonn und Ost-Berlin gibt es eine entente cordiale, die den Unterschied von Demokratie und Diktatur zur quantité négligeable verschwimmen läßt: Schließlich waren alle „irgendwie“ in den Unrechtsstaat verstrickt. Mitleid nicht mit den Opfern, sondern mit den Tätern ist angesagt. Symptomatisch in diesem Sinne war die Rede des Vorsitzenden des DDR- Schriftstellerverbandes, Rainer Kirsch, der angesichts der Forderung nach Aufarbeitung der Vergangenheit die Flucht nach vorn antrat. Er äußerte kein Wort des Bedauerns oder der Betroffenheit über die stalinistische Vereinnahmung der Literatur — von kritischer Selbstbefragung ganz zu schweigen —, sondern dreht den Spieß einfach um: Nicht Honnecker und Mielke, Hager und Höpke sind schuld am Elend der DDR-Intellektuellen, sondern Ulrich Greiner, Frank Schirrmacher und andere Kritiker aus dem Westen, die sich erfrechen, an der Oppositionsrolle von Christa Wolf oder am Demokratieverständnis von Heiner Müller zu zweifeln: So etwas tut man nicht. Der Hauptfeind der DDR-AutorInnen wäre demnach nicht die Staatssicherheit, sondern die 'FAZ‘ — der Bote ist schuld an der Botschaft. Solche Ressentiments gegen die Selbstgerechtigkeit des Westens erinnern fatal an die Zeit nach 1945, als die Mehrheit der Deutschen, anstatt über die Verbrechen der Nazis nachzudenken (und über ihren eigenen Anteil daran), die Unmenschlichkeit der alliierten Sieger anprangerten und über Versorgungsmängel meckerten.

Natürlich ist es nicht statthaft, die Schriftsteller der DDR als Kollaborateure zu diffamieren und pauschal ins literarische Abseits zu stellen. Westliche Kritiker, die keine mildernden Umstände gelten lassen, sollten sich fragen, wie sie selbst sich unter den Bedingungen einer alle Lebensbereiche durchdringenden Diktatur verhalten hätten und ob ihr vorschnelles Verdikt über andere nicht von eigenem Versagen ablenkt: Viele von denen, die jetzt am lautesten schreien, haben den real existierenden Stalinismus erst nach dem 9.November entdeckt. Daß die DDR-Literatur nicht aus lauter Märtyrern bestand, ist klar. Aber die Frage muß auch erlaubt sein, warum sie keinen Vaclav Havel und keinen György Konrad hervorgebracht hat, und warum die DDR-Schriftsteller, anders als die Polens, Ungarns oder der Tschechoslowakei, nicht die Avantgarde, sondern die Nachhut der Protestbewegung bildeten. Die Antwort liegt auf der Hand: Kritiker wie Bahro oder Biermann wurden von dem Regime, das sie beim Lügen ertappt hatten, postwendend in die Bundesrepublik expediert. Aber das Schweigen prominenter Autoren, als friedliche Demonstranten „Freiheit für Andersdenkende“ forderten und von der Stasi vor die Wahl gestellt wurden, entweder in den Knast oder in den Westen abzuwandern, ist damit noch nicht erklärt: das Schweigen von Heiner Müller zum Beispiel, dem die Premiere seines Stückes damals wichtiger war als die Solidarität, von der sein Stück handelt.

Den Unterschied zwischen intellektueller Scheinopposition und wirklich oppositioneller Literatur, die jenseits des offiziellen Diskurses angesiedelt ist, machte Gert Neumann deutlich, ein Autor, der vor den Drangsalierungen des SED- Staats nicht in den Westen, sondern in die Arbeitswelt emigriert ist. Er verlas einen Briefwechsel mit dem DDR-Kulturminister, in dem er gegen die Beschlagnahmung seiner Manuskripte durch die Stasi protestierte, und schilderte seinen Rausschmiß aus dem Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig, wo er auf die Prüfungsfrage „Was ist schön?“ die „richtige“ Antwort verweigerte. Sie lautete: „Schön ist das Antlitz der Erbauer des Sozialismus.“ Mit seinem nicht nur politisch, sondern auch literarisch spannenden Text durchbrach Gert Neumann den Sanitätskordon der Sachlichkeit und gab Einblick in ein System von Anpassung und Unterdrückung, Belohnung und Strafe, dessen „normales“ Funktionieren über vier Jahrzehnte hinweg mehr Fragen aufwirft als die Ursachen, die zu seinem Zusammenbruch geführt haben.

„Aber lieber Herr Buch, worüber regen Sie sich so auf? Das wissen wir doch längst, daß die DDR ein Polizeistaat war!“ (Zwischenruf des Diskussionsleiters). Ich weiß, lieber Herr Baumgart, auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ich fürchte nur, wer alles durchschaut zu haben glaubt, ist an der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht wirklich interessiert. Und ich habe Angst, daß die Nutznießer der Diktatur auch in der Demokratie wie Fettaugen oben schwimmen, während ihre Opfer sang- und klanglos im Ausguß verschwinden. Die Aufforderung an Hermann Kant, sich um ein Stipendium beim Literaturfonds in Darmstadt zu bewerben, läßt Schlimmes befürchten.