Die Donau-Connection

■ Versuch einer Antwort auf die innereuropäischen Machtverschiebungen KURZESSAY

Ernüchterung macht sich breit in West- und Osteuropa über die Perspektiven und Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks ergeben können, aber auch über den Zustand der europäischen Diplomatie, die auf beiden Seiten des ehemaligen eisernen Vorhangs noch immer mehr oder weniger benommen zu taumeln scheint.

Gewiß scheint nur die Unsicherheit zu sein. Aus der Sicht Italiens gibt es dafür zwei Motive:

1) Die Chimäre einer „deutschen Frage“ taucht nicht in erster Linie deshalb auf, „weil Bonn auf Souveränität zielte, sondern weil es auf vollkommen konfuse Weise souverän zu werden droht, ohne dem veränderten eigenen Status Rechnung zu tragen. Für den jetzigen Moment [...] zeichnet sich ein Deutschland am Horizont ab, das von Osteuropa angezogen ist, das stark von der Sowjetunion abhängt und das sich bewußt auf sich selbst beschränkt [...] Es könnte sein, daß dieses Deutschland lieber im Namen der UNO (und folglich mit Zustimmung der UdSSR) als in dem der Nato und einer eventuellen europäischen Verteidigungsgemeinschaft agieren möchte.“ Soweit ein Kommentar von Barbara Spinelli, der typisch für die Befürchtungen der meisten politischen Kräfte in Italien hinsichtlich der durch das neue Deutschland ausgelösten Zentrifugalkräfte in der EG ist.

2) Die wirtschaftliche Achsverschiebung, die man für die EG mit der deutschen Vereinigung und der hier für zwangsläufig erachteten stärkeren Ost-Orientierung des neuen Deutschlands befürchtet. Bisher galt grob das Prinzip, alles was innerhalb des Dreiecks Paris-Köln- Mailand liegt, ist, wirtschaftlich gesehen, EG-Kernland und hat Standortvorteile. Für alle Zonen außerhalb gibt es Standortabschläge.

So erstaunt es nicht, daß von Italien vielleicht die erste wirkliche diplomatische Reaktion auf die veränderten Verhältnisse in Europa ausging. Italien ergriff die Initiative zur sogenannten „Pentagonale“ (Fünfeck). Das ist eine Art Verabredung zwischen Ungarn, der Tschechoslowakei, Österreich, Jugoslawien und Italien. Am letzten Juli-Wochenende des laufenden Jahres wurde diese „Verabredung“ auf einem Treffen der Außenminister und Regierungschefs dieser Länder in Venedig formalisiert. Diplomatisch gesehen versteht sie sich als eine Art Sektion des Helsinki-Prozesses. Formal wurde ein Vorsitz geschaffen, der im Jahresrhythmus rotiert. Den ersten Vorsitz führt Italien. Außerdem wurden sieben Arbeitsgruppen (Information, Kultur, mittelständische Industrie, Technik, Telekommunikation, Transport/Verkehr, Umwelt) mit dem Auftrag eingerichtet, gemeinsame Projekte resp. genaue Finanzierungsmöglichkeiten für bereits im Grundsatz ausgearbeitete Projekte zu entwickeln. Schwerpunkte sollen dabei vor allem der Ausbau des Eisenbahn- und Straßennetzes sowie in Bereich der Telekommunikation der Aufbau eines Glasfaser-Kabelnetzes und ein gemeinsamer Telefonsatellit zur Überbrückung der Engpässe sein.

Eingebunden war dieses Treffen in Venedig in den größeren Rahmen kultureller Veranstaltungen über „Die gemeinsamen historischen und soziokulturellen Wurzeln Mitteleuropas“. Das war nicht nur ornamentales Beiwerk für die Treffen der Politiker mit den Vertretern der italienischen Wirtschaft, sondern Ausdruck der bereits seit längerem relativ zielstrebig betriebenen Politik des italienischen Außenministeriums, die Kultur als Botschafter Italiens ins Spiel zu bringen. In diesem Sinne war es ganz logisch, dem Slavisten Vittorio Strada — und nicht irgendeinem Regierungssprecher — auf der abschließenden Pressekonferenz das letzte Wort zu überlassen.

Natürlich gibt es in diesem Fünfer-Bündnis divergierende Interessen. Da wollen die Ungarn Polen einbeziehen, wohingegen die Italiener bremsen, weil sie sich dann der ganzen Angelegenheit wirtschaftlich nicht mehr gewachsen fühlen. Die Österreicher möchten vor allem möglichst schnell zu einer Verbesserung der Umweltsituation in der CSFR gelangen, denn für deren Emissionen zahlen sie bereits jetzt einen hohen Preis. Und sie drücken in Richtung auf eine klare Anti-Atompolitik. Den Tschechoslowaken liegt dagegen besonders am Herzen, sich möglichst schnell aus dem Gravitationszentrum der Sowjetunion zu lösen, insbesondere hinsichtlich der Energieversorgung und des Verkehrs. Die Italiener sehen in ihrer Initiative vor allem ein Gegengewicht zur Achse Paris-Bonn und zu den verschobenen Gewichten in der EG. Nur Jugoslawien ist — erklärbarerweise angesichts der inneren Zerrissenheit — im Augenblick kaum in der Lage, klare Perspektiven zu formulieren.

Dennoch überwiegt bei weitem das gemeinsame Interesse, unter dem sich die fünf Länder zusammenschließen und dabei keine Vormachtstellung Italiens zu fürchten brauchen, weil es dazu geopolitisch kaum in der Lage wäre. So können sie ihre Schwäche in Stärke verwandeln und vielleicht verhindern, daß sie — dies gilt insbesondere für Ungarn und die CSFR —, nachdem sie sich gerade aus der Abhängigkeit von der UdSSR befreit haben, nun in eine neue Abhängigkeit, eben des erstarkten Deutschlands, geraten. Der Gedanke, daß sich die Kleinen zusammentun, um ein Gegengewicht gegen Panslavismus und Pangermanismus zu bilden, wurde vor gar nicht so langer Zeit schon einmal klar in den Vordergrund gestellt: vom ersten Präsidenten der tschechoslowakischen Republik Massaryk in den 20er Jahren. Für ihn war Mitteleuropa jener Gürtel kleiner Länder von Finnland über die Baltenrepubliken bis Österreich und Jugoslawien, der sich zwischen Deutschland und Rußland schieben und in einer gemeinsamen Anstrengung gewissermaßen als Durchgang und Puffer für beide Seiten unentbehrlich machen sollte. Am Versagen der westeuropäischen Staaten 1938 in München und am Hitler-Stalin-Pakt ist diese Idee zugrunde gegangen.

Aber die kulturellen Wurzeln Mitteleuropas sind stark. Hat man bis vor kurzem das Interesse der italienischen Germanistik, Geschichtswissenschaft und Philosophie eher als eine etwas nostalgische Hinwendung zu den „guten alten Zeiten“ der Habsburger interpretiert, so zeigt sich jetzt, daß vielleicht doch mehr Leben darin steckt. Und sei es zunächst einmal ex negativo: Die Idee eines Deutschland mit Berlin als Hauptstadt erweckt zwangsläufig die Erinnerung an jene fatale Konstellation, da Berlin und Moskau sich — und da nicht nur einmal in der Geschichte — über die Aufteilung der kleinen Staaten Mitteleuropas unter sich absprachen. Mitteleuropa, das war niemals Preußen und Berlin, auch wenn die neue deutsche Möchtegern-Hauptstadt damit hausieren geht, sondern eher schon Prag, Budapest, Wien und Triest. Und auch wenn die soziale und kulturelle Schicht, die dieses Mitteleuropa mit Leben erfüllte, nämlich das weitgehend deutschsprechende Judentum in Prag, Budapest und Wien durch die Nazis und später — besonders im Falle Budapest — auch durch den Stalinismus vollständig ausgerottet und vertrieben wurde, ist doch so eine Art Wahlverwandtschaft geblieben, die auf mehr als nur Erinnerung gründet. So ist zum Beispiel wenig bekannt, daß Polski-Fiat nicht etwa ein Joint-venture aus realsozialstischen Zeiten ist, sondern eine Gründung aus den frühen 30er Jahren.

An einem praktischen Punkt hat sich die „Donau-Connection“ im übrigen bereits bewährt: Als die Bundesrepublik Ende letzten Jahres den DDR-Bürgern die visumfreie Einreise in alle EG-Länder ermöglichen wollte, da knüpfte Italien (in diesem Punkt mit Frankreich einig) seine Zustimmung an die Bedingung, gleiches müßte auch den Ungarn und Tschechoslowaken gewährt werden. Zähneknirschend mußten die Deutschen nachgeben.

Wie weit der Schwung und die guten Absichten auf dem Treffen in Venedig tragen — was sich auch in dem ausgesprochen entspannten und kooperativen Klima ausdrückte, mit dem die Probleme beim Rückbau der zentralverwalteten Wirtschaftssysteme diskutiert wurden —, das wird sich beim nächsten Treffen der fünf erweisen. Es soll in einem Jahr in Dubrovnik stattfinden. Uli Hausmann