Spekulanten in Berlin

■ Uraufführung eines Musicals nach Walter Mehring in Wuppertal

Die Story stammt von einem, der Glanz und Elend des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erlebt hat: Walter Mehring kam als Neunzehnjähriger zum „Sturm“- Kreis des Herwarth Walden, wurde während des ersten Weltkriegs als „Verdächtiger“ in Jüterborg interniert. Zwangsarbeit in der Munitionsfabrik Spandau, 1917 Anführer der Berliner DADA-Gruppe; aus politischen Gründen angeklagt; 1920 Gründung des „Politischen Cabaret“ in Berlin. Mehring ging dann für sieben Jahre als Korrespondent nach Paris; schrieb nach seiner Rückkehr das Schauspiel Der Kaufmann von Berlin, das Erwin Piscator 1929 inszenierte — die Rechte sorgte für Randale. Vor den Nazis floh er 1933 aus Deutschland, wurde 1938 in Österreich verhaftet; konnte entkommen. In Frankreich wieder interniert und wieder geflohen; an der spanischen Grenze nochmals gefangen und aus dem Lager geholt. Von da an blieb er „auf Reisen, sporadisch seßhaft am Rand der Zeit“. Lebte in Hotels, vorwiegend in Europa; starb 1981 in Zürich.

Das Schauspiel vom Kaufmann in Berlin verhandelt, brisant und aktuell, die Spekulationsgewinne während der großen Inflation von 1923, die über Nacht Krisengewinnler emporspülte und in Stunden Vermögen zerrinnen ließ. Simon Chajim Kaftan, so die Fabel, kommt mit hundert harten Dollars nach Berlin, bootet den Spekulanten Eisenberg aus und steigt ins große Finanzgeschäft ein. Er bleibt Außenseiter. Die abgöttische Liebe für seine hübsche kranke Tochter Jessi kollidiert mit den knallharten Geschäfts-Praktiken. Der Konflikt, in den ihn sein Helfer, der Rechtsanwalt Müller, steuert, spitzt sich mit der Übernahme eines Riesenhaufens Schrott zu — der erweist sich als hochexplosives Waffen- und Munitionslager, von dem noch unklar ist, ob es nach Litauen geschafft werden soll oder der Reichswehr zum Putschen dienen wird.

Otto Beatus, der Komponist und Pianist der Wuppertaler Produktion, hat viele Sprechszenen ohne Musik stehenlassen und für die Songs eine Mischung arrangiert, die sich einerseits an Andrew Lloyd Webber orientiert, andererseits Chanson- Ton der zwanziger Jahre anklingen läßt und Big-Band-Sound der fünfziger. Nur zu oft allerdings erschlägt diese Melange Mehrings hochexpressive Sprachfetzen und die coolen Großstadtszenen. Das Darstellerteam hatte manche Mühe, der anspruchsvoll konzipierten Choreographie von Hans Pop und den Anforderungen des Singens zugleich nachzukommen.

Versuchte die Musik zu aktualisieren, so setzte die Inszenierung von Janusz Kica auf Historismus. Die „Stützen der Gesellschaft“, die sich auf der Wuppertaler Bühne tummeln, sind dem bekannten Bild von George Grosz (1916) nachgestellt — unter dem eisernen Laufgang zwischen der Wendeltreppe zur Linken und dem Fahrstuhl zur Rechten bleiben die Theaterbilder freilich hinter der grotesken Grosz-Darstellung weit zurück. Die deutschnationalen Herren pissen auf die rote Fahne. Die Bourgeoisie feiert mit dem Cabaret- Glamour der zwanziger Jahre. Indem das Finanzimperium in sich zusammenstürzt, wird eine Puppe in Gestalt Kaftans zerstückelt (auch das eine Grosz-Metapher) — ein makabrer Theatralisierungsakt. Die Chance, die veränderte Erscheinungsform von Ost-Händlern und Waffenschiebern für eine Vergegenwärtigung des Kaufmanns von Berlin zu nutzen, wurde durch die Fixierung auf die alten Bilder verschenkt. Mehrings Stück könnte, gerade in der gegenwärtigen Situation, die Vorlage für brisantes Theater sein. Es liegt zum Greifen nahe — wenn man nur nicht so absichtsvoll danebengreift. Frieder Reininghaus