Herbst 90: „Haltet durch“

Ein Jahr nach der großen Demonstration in Leipzig begeben sich einige auf die Straße und die Suche nach den verlorenen Hoffnungen der Revolution  ■ Aus Leipzig Brigitte Fehrle

Leipzig im Oktober 1990. Montag abend. Etwa 500 Leute demonstrieren über den Ring. Sie blockieren die sechsspurige Straße samt Straßenbahnschienen. Ihre Zahl reicht grade, um eine dichte Reihe zu bilden. Dahinter bröckelt es. Eine demonstrative Geste: Die Straße gehört uns, wir lassen uns nicht auf den Randstreifen der Geschichte drängen. Sie versuchen, verlorene Hoffnungen von Oktober 89 zu beerben.

„Wir sind das Volk“, haben ein Jahr zuvor 100.000 gerufen. An diesem Abend wurde die Wende in der DDR besiegelt. Die friedliche Wende. „Wir sind das Volk“, hört man auch an diesem Montag abend. Doch es ist einer, der das ruft. Bei den Mitmarschierern löst es verlegenes Lachen aus. Das „Volk“ ist an diesem historischen Abend nicht auf der Straße. Das „Volk“ in Gestalt eines Straßenbahnfahrers ärgert sich über die DemonstrantInnen, die in seinen Augen grundlos die gesamte Fahrbahn beanspruchen. Diejenigen, für die die Forderungen des Herbstes nicht mit der D-Mark und der deutschen Einheit erledigt sind, ziehen sich auch den Zorn eines Trabi-Fahrers zu. Er will sich seine freie Fahrt nicht von einer Demonstration nehmen lassen. Die Polizei regelt lustlos den Verkehr. Verschwunden sind Fahnen und Sprechchöre. Wenige schauen zu. Die Aufforderung: „Bürger, laßt das glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“, setzt niemanden in Gang.

Die am Montag auf der Straße sind, haben den neuen Feind bereits ausgemacht. „Wer so oft lügt, dem glaubt man nicht“, steht auf dem wie ehemals selbstgemalten Transparent neben dem Konterfei von Kanzler Kohl. Man hat sich schnell mit den neuen politischen Gegebenheiten identifiziert. „Deutsche Waffen, deutsches Geld/ regiert schon wieder die Zweidrittel-Welt“, ruft ein Demonstrant ausdauernd übern Ring. Daß keiner mitmacht, läßt ihn nicht verstummen. Laut wird es nur einmal, als der Zug vorbei an der leuchtenden Camel-Reklame am Stasi-Gebäude vorbeikommt. „Haltet durch“, schreit einer durchs Megaphon. Alles klatscht, die Fahrradglocken bimmeln. Sie klatschen sich auch selbst Mut zu.

Wie immer hat die Demonstration auch an diesem Abend an der Nikolaikirche ihren Ausgang genommen. „Tage der Ermutigung“ hat die Kirche die Erinnerung an den Herbst 89 überschrieben. Drinnen beim traditionellen Friedensgebet fragen sich inzwischen die kirchlichen Gruppen, welche Aufgabe sie haben — jetzt, wo Freiheit und Einheit erreicht sind. Eine Frau bedauert, daß es schon wieder nur wenige sind, die sich in Arbeitskreisen Gedanken machen über die Armut und darüber, wie der Frieden zu sichern ist.

Die Kirche ist nur mäßig besetzt. Von denen, die da sind, sind viele aus Westdeutschland gekommen. Geredet wird von den Arbeitslosen, von den Problemen der Kinder in der Schule, von den Schwierigkeiten im Betrieb mit den neuen und alten Herren. Die rhetorische Frage: „Ist uns bewußt, daß viele noch nicht zu ihrem Recht gekommen sind?“ wird draußen vor der Kirche klar beantwortet: Hier äußern sich die neuen Verlierer. Für die Gruppe „aktive Senioren“ fordert eine Frau mehr soziale Sicherung, höhere Renten, und daß etwas gegen die Arbeitslosigkeit getan wird. Sie bekommt viel Beifall. So wie der Mann — er spricht als Vertreter der „Opfer des Stalinismus“ —, der sein Resümee aus einem Jahr deutsch-deutscher Geschichte zieht: „Früher waren wir unmündig, heute sind wir es wieder.“ Die sich selbst unter der SED Herrschaft als Opfer gesehen haben, sind offenbar nur allzuschnell bereit, diese Rolle wieder einzunehmen.

Szenenwechsel: In der Universität Leipzig wird am Abend diskutiert. Eingeladen hatte Jochen Läßig vom Neuen Forum. Thema: „Die verlorene Revolution“. Doch die 100, die in den Hörsaal gekommen sind, interessiert die Tat des Jochen Läßig viel mehr als seine Analysen. Er war es, der am Samstag abend in der Nikolaikirche den Bundespräsidenten der Beteiligung an Waffengeschäften bezichtigt hatte. Und an diesem Montag abend, kaum ein Jahr nachdem sich die Leipziger das freie Wort auf der Straße erkämpft hatten, diskutieren sie über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Die Gefühle, die damals angesichts der Taten der Stasi geäußert wurden, treffen jetzt Läßig. Die Reaktion auf seine Tat bei einigen: „Wut und Entsetzen“.