Amnestie für alle

■ Zum Umgang mit den Amnestieforderungen westdeutscher Strafgefangener KOMMENTARE

Die Versuche der Gefangenen in der ehemaligen Bundesrepublik, eine Teilamnestie durchzusetzen, trifft auf einen Ungeist, der noch älter ist als die Bundesrepublik. Wird in westlichen Amtsstuben gerade noch Verständnis für die Amnestieforderungen der Strafgefangenen in der ehemaligen DDR geheuchelt — schließlich war ja im Gegensatz zum Selbstgerechtigkeitsstaat BRD die DDR ein Unrechtsstaat —, so wird den eigenen Kriminalisierten vermittels einer Art kostenloser Rechtsberatung gesteckt, daß sie nichts zu fordern hätten.

Laut 'FR‘ vom 6.10. hat der mutmaßliche Sozialdemokrat Dieter Wendorff, Sprecher des NRW- Justizministeriums, den Gefangenen von Rheinbach erklärt, daß sie, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß der Bundestag eine Teilamnestie beschließen würde, mit Sicherheit davon ausgeschlossen wären, weil sie „Schwerstkriminelle“ seien. Wer sich daran erinnert, wie hierzulande von unseren Heuchel- und Meuchel-Medien seit Jahren über Verbrechen im Hafturlaub und im Freigang berichtet wird, und um die beleidigten Reaktionen der zuständigen Juristen weiß, die ihrerseits keine größere Undankbarkeit kennen, als den Mißbrauch von Haftlockerungen, dem ist klar, von wem die Rede ist.

Es sind nicht die, die Eigentum von Juden arisiert haben, sondern die, die einen Kiosk überfallen haben, und weil sie es nicht schaffen, ein richtiges Verbrechen zu begehen, dem Rentner, der ihn betreibt, eine Eisenstange über den Kopf ziehen. Es sind nicht die, die unter Adolf Hitler Menschen wegen Lapalien zum Tode verurteilt haben, sondern die, die beim Einbruch aus Angst geschossen haben, als sie überrascht wurden. Es sind nicht die Hersteller und Lieferanten von Giftgasfabriken, es sind die, die solche Aggressionsprobleme haben, daß ihnen diese sattsam bekannten, brutalen Geschichten passieren, die sie, wenn sie wieder nüchtern sind, nicht als ihre Taten wahrnehmen können.

Wer in den Gefängnissen sitzt, ist bekannt. Alle, denen es draußen in der Freiheit besonders dreckig geht, sind im Knast überrepräsentiert: die Roma und Sinti, die Ausländer, die Jungs ohne Schulabschluß und ohne Berufsausbildung, Männer, die nie eine sogenannte intakte Familie kennengelernt haben, dafür Alkohol- und andere Drogenprobleme ohne Ende.

Seit unserer BRD-Wende, seit der Übernahme der Regierung durch CDU/CSU und FDP, wird das aus dem öffentlichen Bewußtsein gedrückt, wird alle Schuld diesen „Schwerstkriminellen“ aufgehalst, und entsprechend ist es ihnen in den vergangenen zehn Jahren ergangen. Die Haftbedingungen wurden verschärft, und ihre Freiheitsstrafen wurden länger und länger. Schuld und Sühne marktwirtschatlich privatisiert. Das so oft beklagte Ausbleiben der Wende hat tatsächlich in den letzten zehn Jahren im Knast und bei den Strafprozessen stattgefunden. Da, wo zumeist Schwache ohne Lobby hocken. Allein mit dem Staat.

Das alles ist an der Öffentlichkeit vorbeigegangen, weil es die allerwenigsten interessiert, weil die Entsolidarisierung in dieser Gesellschaft sich immer weiter fortsetzte. Oder wo sind die kritischen Kriminologen, die noch Anfang der 80er Jahre für die Abschaffung der Gefängnisse plädiert haben, und wo die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen, die das geltende Strafvollzugsgesetz durch ein Resozialisierungsgesetz ablösen wollten, in dem deutlicher zum Ausdruck kommen soll, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse wesentlichen Anteil an der Entstehung von Kriminalität haben?

Gibt es immerhin noch eine schwache Erinnerung an den Begriff Klassenjustiz und die Tatsache, daß die Unterprivilegierten im Knast unter sich sind, so gibt es heutzutage fast keinen Begriff davon, daß die sogenannten Schwerstkriminellen durch die Bank Staatsgefangene in einem durchaus wörtlichen Sinne sind: Produkte dieses Staates. All diejenigen, die Sicherungsverwahrung haben oder als Wiederholungstäter immer wieder im Knast landen, haben eine Gemeinsamkeit: Fürsorge, Kinderheim, Jugendheim, Jugendgefängnis, Strafhaft für Erwachsene. Vom Staate erzogen, in staatlicher Obhut brutalisiert. Und ausgerechnet die sollten voll und allein für das verantwortlich sein, was sie anderen angetan haben? Gerade sie sollten „amnestieunwürdig“ sein?

Was sie fordern, ist nicht maßlos: Reduktion der Strafe der Lebenslänglichen auf zehn Jahre, Halbierung der Strafe bei allen anderen.

Wer nicht von Stein ist, muß sie in ihrem einsamen Kampf unterstützen. Wer seine Menschlichkeit wiederfinden will, hat diese Möglichkeit: Solidarität.

Man lasse sich von dieser Realität nicht täuschen: Die 167 Gefängnisse der ehemaligen Bundesrepublik sind zwar sozial isolierte Stein- und Betonklötze — das Strafprinzip aber durchdringt und fesselt die ganze Gesellschaft. Wie sehr davon heute noch die individuellen Lebensläufe — von der Wiege bis zur Bahre: Strafe, Strafe, Strafe — geprägt werden, zeigen die neuesten Zahlen über die Prügelstrafe und die brutaleren Mißhandlungen von Kindern: Tendenz steigend. Und daß in dem Staat, der sich als der freiheitlichste feiert, den es je auf deutschem Boden gab, die Gewalt gegen Kinder wächst, gegen die allerschwächsten, wird mit verursacht durch einen „Vater Staat“, der Härte gegen Strafgefangene, gegen die Menschen in seiner Obhut, als die angemessene Antwort auf abweichendes Verhalten nicht nur propagiert, sondern auch durchsetzt. Freiheit für alle Gefangenen! Klaus Jünschke

Der Autor war einst bei der RAF und 16 Jahre in Haft. Heute lebt er in Köln. Er hat das Buch „Spätlese — Texte zu Knast und RAF“ (Verlag Neue Kritik) geschrieben.