„Das ist wenigstens ein richtiger Mann“

Eine hohle Gasse für Bundeskanzler Helmut Kohl auf seiner Wahlkampf-Tour in der Atomstadt Greifswald/ Kein Wort zum wichtigsten Problem der Region, dafür Balsam satt für die SED-geschundenen Seelen in Mecklenburg-Vorpommern  ■ Aus Greifswald M. Kriener

Dat Du min Leevsten büst,

dat Du wohl weeßt

kumm bi de Nacht,

segg wo Du heeßt.

(Begrüßungslied für Helmut Kohl, vorgetragen vom Jugendorchester der Robert-Koch-Schule Grimmen).

Ob der Schwarze Riese für die 5.000 auf dem historischen Marktplatz versammelten Greifswalder wirklich der Herzallerliebste ist? Die beiden Klarinettistinnen des Jugendorchesters schätzen ihn jedenfalls nicht besonders. Bei dem, so glauben Sie, „geht's doch immer nur ums Geld“. Doch vielen anderen spricht das Liedchen aus dem Herzen. „Der hat doch dafür gesorgt“, seufzen zwei ältere Damen, „daß wir jetzt nicht mehr anstehen müssen, und daß alles so schnell ging mit der D-Mark.“ „Jawohl, den mögen wir.“ Zwei Männer mit Prinz-Heinrich-Mützen gehen noch einen Schritt weiter: „Der hat Statur, das ist wenigstens ein richtiger Mann und keiner von den Weihnachtsmännern, die wir hier die ganze Zeit hatten.“ Lafontaine? „Nee hör uff, was will denn der hier noch bei uns?“ Die SPD? „Da hätten wir doch gleich die SED behalten können.“

Fast pünktlich rollt Kohls Konvoi auf den Marktplatz. Im Publikum wird mit einem Weihnachtsglöckchen gebimmelt: Er kommt. Für die Ordner ist dies das Signal. Jetzt können sie zeigen, was sie bei Honecker gelernt haben: Wink-Elemente verteilen. Den Arm voller Schwarz- Rot-Gold laufen zwei Helfer die von dicken Kordeln gebildete Gasse ab, durch die der Kanzler schreiten wird. Im Abstand von fünf Metern werden die Fahnen den Gläubigen in die Hand gedrückt. Keiner wehrt sich, keiner erinnert sich. Dann brüllt doch einer: „Wie bei Erich!“ Zwei Frauen drehen sich um und kichern.

Mit dem Kanzler sind die Greifswalder längst per Du. Ein tausendstimmiges „Helmut-Helmut“ geleitet den Hauptdarsteller zur Tribüne. Dann wird der Chor abgelöst durch das donnernde „Deutschland-Deutschland“. Es ist nicht inszeniert, die Leute sind so. Eine grell angestrahlte Tribüne, die Fahnen, der große historische Platz im Halbdunkel, das inbrünstige „Deutschland“: Die Gänsehaut kommt automatisch.

Die Kohl-Gegner haben sich im hinteren Teil versammelt, mit einem Transparent wurde niemand vor die Tribüne gelassen. „Das liest sowieso keiner“, weist ein Ordner drei AKW-Gegner zurück, die den Kanzler in der Atomstadt Greifswald fragen wollen: „Wohin mit dem Atommüll?“ Demokratie ist prima, aber man soll es nicht gleich übertreiben.

Der örtliche CDU-Matador Alfred Gomolka stellt Kohl als einen Mann vor, der wie kein anderer an der Einheit Deutschlands festgehalten habe und der „sich als ein verläßlicher Führer erwiesen hat“. Die Trenchcoats auf der Tribüne verziehen keine Miene.

Kohls Rede ist moderat, geschickt, staatsmännisch. Nur die „Söldlinge“ und „Bankrotteure der SED“ werden kräftig geknüppelt. Denn die haben „die Menschen in vier Jahrzehnten um die Früchte ihrer Arbeit gebracht“. Die Ex-DDR- Bevökerung wird als arbeitssam und fleißig charakterisiert, aber verführt von einer kleinen Clique von Honeckers und Mielkes, den Alleinschuldigen. Nichts bringt Kohl mehr Beifall als diese Schuld-Freisprechung, die millionenfache individuelle Verstrickung im tröstlichen Halbdunkel des Markplatzes auflöst. Und keiner kriegt mehr Haß zu spüren, als der Kletterer auf der Straßenlaterne, der den Greifswaldern die alte Fahne der SED unter die Nase hält. Immer wieder versuchen beherzte Männer den Störenfried herunterzuziehen, bis der Kanzler ein Machtwort spricht: „Lassen Sie den doch klettern.“ Es gebe eben noch zu viele, weiß Kohl, „die aus der Verführung der Vergangenheit noch nicht klar denken können“. Das Volk tobt.

Der Kanzler hat aber auch tröstende Worte für die Demonstranten mitgebracht, die mit Sprechchören und Pfiffen immer wieder intervenieren, die „die alte Blockpartei CDU herzlich grüßen“ die „volle Zustimmung zu allem“ bekunden und sich freuen, „endlich eine Kohlonie zu sein“. Niemand, verspricht Kohl, werde „auf dem Nachhauseweg zugeführt“, und niemand werde morgen von der Stasi verhört, denn das sei nun mal der Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie.

Kein Wort verliert der Kanzler dagegen zum Hauptanliegen der Demonstranten: zu jenem Atomkraftwerk, das gerade 14 Kilometer von diesem Marktplatz entfernt vor sich hinstrahlt. 10.000 Menschen arbeiten am und im „Kernkraftwerk Nord“, dem größten Arbeitgeber der Region. Monatelang haben die maroden Reaktor-Invaliden die Diskussion bestimmt. Doch der Bundeskanzler hat zum drängendsten Problem dieser Stadt nichts zu sagen. Stattdessen: Der Regenwald in Brasilien müsse geschützt werden.

Kohl präsentiert sich auf Du und Du mit Gorbatschow, Bush und seinen anderen „Freunden“, er gibt sich europäisch, warnt vor jedem Nationalismus und beschwört immer wieder das gemeinsame Ärmel-aufkrempeln-Zupacken“. Höhepunkt seiner Rede ist die Geschichte von den beiden Kriegsgefangenen, die aus Rußland kamen. Der eine stieg in Frankfurt/Oder aus, der andere in Frankfurt/Main. Und heute? Wenn die beiden ihren Rentenbescheid nebeneinanderlegen? Kohl verkürzt die Wahl-Alternativen auf die eine knappe Formel: CDU oder SED. „Meine Freunde“ oder die „sozialistische Barberei“. Karl Marx oder Ludwig Erhard. Diese beiden stehen zur Wahl und niemand anderes.

Nach einer Stunde ist der Beifall verrauscht, die „Frauen und Männer, die sich mit ihrer friedlichen Revolution in das Handbuch der Geschichte eingetragen haben“ (Kohl), machen sich auf den Heimweg. Von den Demonstranten wird tatsächlich keiner zugeführt, die kriegen dafür einen Fußtritt ins Kreuz und ein herzhaftes „ab in den Schacht ihr roten Socken“ zugerufen. „Der ganze rote Mist gehört weg“, sagt ein blauer Wanst und fuchtelt mit der Bierflasche. „Das werden die Verlierer sein“, blickt sein Nachbar giftig zu den Demonstranten hinüber. Die Bilanz des Mittwochabends zieht schließlich ein Westdeutscher: „Die Zonis“, resigniert er, „versauen uns das ganze Wahlergebnis — die sind noch schlimmer als der Kohl.“