Karriereflucht statt Gesellschaftskritik

■ Zur gesellschaftlichen Lage der Soziologie DOKUMENTATION

Noch nie gab es so viele Soziologen in Deutschland, und noch nie gab es so wenig Soziologie. Das klingt übertrieben; aber die Übertreibung kann auf eine Wahrheit aufmerksam machen. Wenn man den Gradmesser öffentlicher Aufmerksamkeit, die Medienpräsenz anlegt, muß der Soziologie in den letzten zwei Dekaden eine Katastrophe zugestoßen sein. Während des letzten Soziologentags in Frankfurt, 1968, galt die Soziologie als das argumentative Schlachtfeld unterschiedlicher Interessen.

Noch einmal erfüllte Soziologie ihre Funktion als kritische Selbstverständigung der Gesellschaft. 1910 hatten sich die Verfechter der Soziologie zum erstenmal in Frankfurt getroffen, um ihre Wandlung zur Wissenschaft zu dokumentieren, die der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht unkritisch gegenüberstand. 1946 traf man sich wieder in Frankfurt. Die kritische Aufarbeitung der deutschen Soziologie fand damals allerdings nicht statt; aber Soziologen brachten in den folgenen Jahrzehnten ein aufklärerisches Potential zur Geltung, das konfliktreich und unübersehbar 1968 zur vollen Entfaltung kam.

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Die substantielle Frage hieß 1968: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? 1990 gibt es keine Frage mehr, sondern nur Indikativ: „Die Modernisierung moderner Gesellschaften“. Die Begrifflichkeit hat sich völlig verändert. Über Soziologenchinesisch klagt keiner mehr; ein Designerdeutsch hat es ersetzt — meist in der Form von Adjektiven: postmodern, multikulturell. Die verbalen Etiketten kleben wie die Fassaden der architektonischen Postmoderne vor dem substantiellen Geschehen, das nicht mehr einer begrifflichen Durchdringung ausgesetzt wird. Das Wort en vogue heißt Risikogesellschaft, das den unverbildeten Hörer eher an den Tarnnamen einer Tippgemeinschaft am Arbeitsplatz denken läßt. Sicher bemühen sich auch heute noch talentiere Soziologen, den Veränderungsprozeß der Gegenwart zu erfassen — aber der Schulsoziologie droht der Begriff der Gesellschaft zu verschwinden. So koppelt sich Gesellschaftswissenschaft von der Erfahrung der Wirklichkeit ab. Soziologie wurde einst von akademischen Außenseitern begründet; heute scheint sie eher das Selbstbewußtsein von fest angestellten Wortspielern zu artikulieren; eine Sicherheitsphilosophie von ganz besonderer Art. Die angekündigten Paradigmenwechsel zeugen mehr von einem Attitüdenwandel der Soziologen als von einer veränderten Gesellschaft. Die große Chance, einen historisch einmaligen Verschmelzungsprozeß unterschiedlicher Gesellschaftsformen zu beobachten, wird kaum genutzt. Existenzängste lassen sich nicht einfach als überholte Bewußtseinsformen von Modernisierungsverlierern darstellen, ohne daß die Soziologie an Ansehen verliert. Dem Arbeitslosen ist „Arbeitsgesellschaft“ mehr als ein bloßes Paradigma. Von den neuen Kollegen aus dem Osten hört man wenig: Den Gesellschaftwissenschaften aus der DDR scheint der rohe Gegensatz von Volk und Macht die Sprache verschlagen zu haben.

1990 hätte die Stunde einer Erneuerung der Soziologie schlagen können. Aber es fehlt ihr das interessierte Personal. In Deutschland ist sie wesentlich Wissenschaft eines selbstkritischen Teils des Bürgertums gewesen — aber Adorno ist tot, Dahrendorf lebt. Den rapiden Gesellschaftsveränderungsprozeß, der von Ost auf West zurückschlägt, begleitet die Soziologie mit behäbiger Selbstgefälligkeit in der Gewißheit, den akademischen BMW zu steuern und den Trabi mit Reifenpanne am Modernisierungsrand links liegen lassen zu können. Glücklicherweise stimmen die Soziologen nicht in das Triumphgeheul über den Zerfall des Realsozialismus ein, wahrscheinlich in der Ahnung, daß Demagogen wieder einmal Soziologie mit Sozialismus gleichsetzen könnten. Eine Soziologie aber, die sich totstellt, kann sich leicht selbst überflüssig machen. Andere könnten dem stumpfsinnigen Spiel der Selbstrekrutierung aus dem Mainstream der Meinungen ein abruptes Ende bereiten.

Die Soziologie frißt ihre Kinder, zumindest die kritischen: Die Rebellen von '68 sind als Soziologen kaum mehr wiederzufinden. Eine institutionelle Vorhut des langen Marsches trat schon Mitte der 70er die Karriereflucht nach vorn an. Sie schliff die sozialistische Kritik am Universitätsbetrieb der Ordinarien zur Sozialpolitik im eigenen Interesse ab. Der feministischen Gesellschaftskritik scheint durch lobbyistische Kooptation und Departmentalisierung allmählich der Atem auszugehen.

Der „Historikerstreit“ signalisierte den öffentlichen Bedeutungsverlust der Soziologie. Jürgen Habermas, der die Rolle eines politischen Ausputzers der Zunft spielte, läßt sich bezeichnenderweise auf dem Soziologentag nicht blicken. Die Soziologie kennt keine Schulen mehr, weil sie keine theoretische Verbindlichkeit mehr kennt. Systeme menschlicher Zusammenhänge sind in den Universitäten durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse ersetzt worden. Die Institution der Seilschaft gab es zwar schon immer beim Erklimmen akademischer Höhen, aber den Selbsterkenntnisprozeß fördert sie nicht. Für das Prestige des Wissenschaftlers ist das Talk- Show-Studio wichtiger geworden als der Hörsaal. Kein Wunder, daß dieser Funktionswandel institutionalisierter Reflexion von bekannten Gesellschaftswissenschaftlern als Krönung einer individualistischen Kultur gefeiert wird. Soziologie wird zur konformistischen Gegenwartswissenschaft, wenn sie die historische wie die ökonomische Dimension der Wirklichkeit anderen überläßt. Modernität oder Antiquiertheit der Moderne lassen sich so nicht erkennen. Detlev Claussen

Der Autor, Soziologe und Publizist, lebt in Frankfurt/M.