Keine Zeit mehr für Neurosen

Im neuen Paragraphendschungel ist die Arbeitssituation in der Ex-DDR ungewiß/ Arbeitlose Frauen können zum „Telefon des Vertrauens“ greifen/ Beratungsstellen: Existenzsorgen verdrängen Familienprobleme/ Mehr gewalttätige Ehekonflikte  ■ Von Ulrike Helwerth

Berlin (taz) — Was ist der Unterschied zwischen einem Wessi und einem Ossi nach der Vereinigung? — Wessi bleibt Wessi, Ossi wird Assi.

Gequältes Grinsen. Die drei Frauen, die im Gleichstellungsbüro des Ostberliner Magistrats zusammensitzen, ist der Galgenhumor vergangen. Die meisten Klientinnen, die sie heute beraten haben, sind entweder schon arbeitslos oder haben ihre Kündigung erhalten. Seit dem 1.Juli, als das Büro mit seiner kostenlosen Rechtsberatung begann, haben die meisten Hilfesuchenden arbeitsrechtliche Probleme vorgetragen. Doch die Stimmung hat sich verändert. Seit dem Einigungsvertrag, erzählt die Westberliner Rechtsanwältin Laetitia Orschel, seien viele Frauen resigniert. „Die aufmüpfige Stimmung von früher ist weg.“ Ihre beiden Ostberliner Kolleginnen können das bestätigen. Seit der Vereinigung irren die Menschen in Ostdeutschland durch einen Paragraphendschungel. Kaum eineR weiß, welche Gesetze schon oder noch gelten, Behörden geben immer wieder falsche Informationen, die dann auch noch von den Medien in Umlauf gesetzt werden. Der rechtlich unsichere Zustand schlägt sich auch in der Beratung nieder. „Wir müssen uns selbst in alle Bereiche neu einarbeiten, knifflige Dinge angehen, die innerhalb des rechtlichen Rahmens gar nicht spezifiziert sind“, sagt die Ostberliner Rechtsanwältin Hildegard Brandt. „Wir können im Augenblick den Frauen nur Mut machen, nicht aufzugeben.“

Karin S. hat ihren Mut noch nicht sinken lassen. Jahrelang saß die studierte „Technologin“ in der Berliner Außenstelle des VEB „Vereinigte Zigarettenfabriken Dresden“ auf einem Verwaltungsposten. Anfang des Jahres wurde der Betrieb zu 100 Prozent von Zigaretten-Multi Philip Morris übernommen. Karin S. war eine der ersten, die im Mai die Kündigung erhielt — ohne Angebot für einen Ersatzarbeitsplatz und ohne Unterschrift der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL). Ein glatter Verstoß gegen das damals noch gültige Arbeitsgesetzbuch der DDR. Karin S. legte sofort Klage ein. Sie hat auch bei den neuen Chefs in Dresden vorgesprochen und nach einer anderen Arbeit gefragt. Maschinenführerin eines Zigarettenautomaten wurde ihr angeboten. „Das Erstbeste“ möchte die Hochschulabsolventin aber nicht akzeptieren.

Sie will einen angemessenen Arbeitsplatz oder eine Abfindung in Höhe eines Jahresgehalts. Das ist der neuen Firmenleitung viel zu hoch. Karin S. führt jetzt einen Papierkrieg und wartet auf den nächsten Verhandlungstermin vor dem Arbeitsgericht. FreundInnen und Bekannte haben ihr schon längst geraten: „Laß doch den Quatsch sein, das bringt doch nichts. Du ruinierst dabei nur deine Nerven.“ Rechtsanwältin Laetitia Orschel und ihre Kolleginnen aber ermuntern sie. Die Kündigung sei rechtsunwirksam. Wie der Prozeß ausgehen wird, mit einer Abfindung oder einer neuen, legalen Kündigung, kann keine sagen. Karin S. macht sich selbst keine Hoffnung auf Wiedereinstellung. „Ich weiß selbst, daß meine bisherige Arbeit in einer Marktwirtschaft keine Chance hat.“ Aber sie ist wütend darüber, wie man sie abserviert hat.

„Die denken, die Frauen sind alle doof.“ Seit ihrer KÜndigung hat Karin S. kein eigenes Einkommen mehr. Arbeitslosengeld hat sie — falsch informiert — bisher nicht beantragt. Sie lebt vom Gehalt ihres Mannes. Der hat noch Arbeit „und ist froh, daß ich jetzt immer zu Hause bin und er abends sein Kaffeechen und seine Puschen hingestellt bekommt.“ Karin S. würde sich gerne fürs Bankfach umschulen lassen, denn „lernen kann ich noch alles Mögliche“. Doch mit ihrer Ausbildung hat sie kaum Chancen; es gibt schon genug Arbeitslose mit Abschlüssen im ökonomischen Bereich. Auf dem Arbeitsamt hieß es: „Sie brauchen sich in den nächsten drei Monaten nicht zu melden.“

Eine — zufällig mitgehörte — Geschichte wie sie heute (so oder ähnlich) zigtausende von Frauen in der ehemaligen DDR erzählen könnten. Was aber sind die Folgen dieser Krise? Wohin wenden sich die Frauen?

Unter der Ostberliner Telefonnummer 437 7002 nehmen sich PsychologInnen und PsychotherapeutInnen 18 Stunden am Tag AnruferInnen in allen möglichen Nöten und Krisensituationen an. Das „Telefon des Vertrauens“ gibt es seit 1987 und wird bisher vom Magistrat finanziert. Zwei Drittel der Ratsuchenden sind Frauen. Die Anrufe haben in den vergangenen Wochen zwar nicht zugenommen, aber Berater Jürgen Hahn hat eine deutliche Schwerpunktverlagerung festgestellt. Das bisher völlig unbekannte Phänomen Arbeitslosigkeit hat die Familien- und Eheprobleme weit abgeschlagen. „Der Existenzdruck ist so groß, daß alle anderen Probleme in die zweite Reihe gerückt sind“, sagt Hahn. Verwundert ist der Psychologe nicht; nachweislich gingen „in Krisenzeiten die Neurosen zunächst immer zurück“. Für die Zukunft erwartet er allerdings einen erheblichen Anstieg der Hilferufe. Eindeutig zugenommen, so Jürgen Hahn, haben familiäre und (ehe-) partnerschaftliche Konflikte, die in Gewalttätigkeiten enden. „Mein Mann ist arbeitslos und wirft mir vor, daß ich zu wenig Geld nach Hause bringe. Er hat mich geschlagen, und ich will weg, weiß aber nicht, wohin ich mit meinen Kindern gehen soll.“ Solche und ähnliche Anrufe seien heute häufiger als früher, machten aber immer noch einen eher geringen Anteil der Probleme aus, erzählt der Psychologe.

Frauen auf der Flucht vor gewaltätigen (Ehe)männern schickt Jürgen Hahn zum ersten Ostberliner Frauenhaus, das Anfang September eröffnet wurde. Es hat Aufnahmekapazität für 24 Frauen und bis zu 40 Kindern und ist schon fast belegt. Schwer zu sagen, ob der große Zulauf auf wachsende Aggression zurückzuführen ist oder auf die simple Tatsache, daß es eine solche Zuflucht für Frauen bisher einfach nicht gab. Mißhandelte Frauen fanden früher höchstens für ein paar Tage Aufnahme in einem Krankenhaus oder einer Psychiatrie. Ein paar, die davon gehört hatten, fanden Aufnahme im Ostberliner Caritas-Haus für Menschen in Krisensituationen. Die Sozialarbeiterinnen des neuen Frauenhauses — Trägerin ist das Diakonische Werk — hören aber immer wieder bei der Aufnahme und in den Beratungsgesprächen: „So schlimm ist es erst seit der Wende.“ Im Caritas- Haus meldeten sich zwischen Januar und März 1990 mehr Frauen als im ganzen Jahr 1989. Am 3. Oktober hätten verlassene Ehemänner das Frauenhaus ausfindig gemacht und davor randaliert, erzählt eine Mitarbeiterin.

Bekanntlich trifft die neue Armut alleinerziehende Frauen besonders hart. In der DDR gab es vergangenes Jahr 320.000 alleinerziehende Mütter und 10.000 alleinerziehende Väter. In Ostberlin und anderen ostdeutschen Orten haben sich einige inzwischen zum Verein „Selbsthilfegruppen Alleinerziehender“ zusammengeschlossen. Rechtsberatung steht auch hier ganz oben auf der Prioritätenliste. Denn seit dem Einigungsvertrag „weiß keiner mehr, was wir erwarten können“, sagt Marion Deutscher, Geschäftsführerin von SHIA. Viele Vergünstigungen, wie längerer Schwangeren- und Wochenurlaub, der besondere KÜndigungsschutz für Alleinerziehende, Betriebskrippen, -kindergärten und Ferienplätze sind weggefallen. In den letzten Wochen häuften sich verständnislose Anfragen, weil viele Alleinerziehende mit ihrem Antrag auf die vereinbarte Kindergeldpauschale von 25 DM/monatlich beim Sozialamt abgewimmelt wurden. Viele Frauen suchen Hilfe, um den Vater ihrer Kinder ausfindig zu machen, der inzwischen im Westen lebt. Es geht um die Alimente, die nach BRD-Recht höher sind als in der DDR. Undundund... „Gerade in den letzten Monaten ist hier Heulen und Zähneklappern, weil niemand weiß, wie es weitergeht“, sagt Marion Deutscher.

Dagmar Albrecht aus der SHIA- Gruppe im Prenzlauer Berg dachte früher: „Ich bin selbständig, ich brauche keine Lobby.“ Dann aber machte der Betrieb dicht, in dem sie arbeitete. Seit einem Monat ist die Chemielaborantin auf Kurzarbeit gesetzt. „Viele alleinerziehende Frauen kommen nur raus, wenn ihnen die Decke auf den Kopf fällt“, sagt sie. Was kann SHIA den Ratsuchenden bieten? Konkrete Hilfe wie Informationen und Adressen, „jemanden zum Quatschen“, um die „soziale Isolation“ aufzubrechen. Natürlich soll SHIA auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge für die Krise benennen. „Bei vielen“, sagt Dagmar Albrecht, „ist die Luft raus und die Illusion, daß sie im neuen Deutschland durch persönliches Engagement was bewirken können. Seit dem 3. Oktober habe ich das Gefühl, daß die Leute in ihre alte Passivität zurückfallen.“