Demokratie oder Melancholie?

„Das Museum als kulturelle Zeitmaschine“ — ein Wiener Symposion  ■  Von Arnd Wesemann

Das Museum boomt, das Museum ist in der Krise. Ein hübsches Paradox. Immer mehr Freunde der Freizeit frequentieren die Schatztruhen der Kultur, vor allem dann, wenn es etwas Besonderes zu sehen gibt. Der Liebhaber aber, der Gourmet, der Kenner wird vom Massenansturm auf museale Kultur vertrieben. Das auf einem Symposion zu bedauern, ist eine wienerische Spielart von Melancholie: den promenierenden Kunstkenner im Stau stehen zu wissen, erst in einer Schlange an der Kasse, dann in einer Schlange vor dem Bild. Der Wiener Philosoph und Künstler Peter Weibel witzelte, man solle die Besuchszeit für Normalsterbliche auf 45 Minuten reduzieren, auch wenn das einer Vertreibung gleichkommt oder an eine erinnert.

1938 traf sich das deutsche Exil jeden Tag in Pariser Museen, an Orten, die für einen Franc Eintritt ganztägig geheizt waren. Man promenierte, sinnierte, grüßte links, grüßte rechts. Ah, der Herr Benjamin, der Autor des Kunstwerks im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, angenehm, Sie vor Originalen anzutreffen. Oswald Oberhuber, Weibels Wiener Kaffeehaus-Gegenspieler, zappelte auf dem Podium: Was heißt hier Original? Zehn verschiedene Reproduktionen eines Bildes, alle das Original verfälschend, sagen mehr über das Original als das Bild, das im Museum kruzifiziert hängt.

In dieser Art lamentierte die Kunstwelt. Aber dadurch geriet das Museum in keine Krise. Es ist unverwüstlich, zumal es zu den demokratischsten Kultur-Einrichtungen überhaupt gehört. Anders als im Kino oder Theater, wird der Blick nicht geradeaus gezwungen und niemand bestimmt, wie lange man sich an der Kunst aufhalten soll. Das Museum ist eine Promenade. Allein, es wird befürchtet, es sei eine Passage geworden, ein Schaufenster am Sonntag, um sich unter der Woche ein Bild beim Galeristen zu bestellen.

Deshalb ein Kongreß? Er wurde unter dem Titel Das Museum als kulturelle Zeitmaschine vom Österreichischen Museum für Angewandte Kunst veranstaltet. Hier traf sich wie selten alles, was man an Kunstprominenz aufbieten kann. Die Gourmets unter sich — Künstler natürlich ausgeschlossen; dafür Philosophen, die auf keiner großen Veranstaltung fehlen dürfen. Was war zu beschließen? Daß das Museum durch die Massenbesucher keinesfalls beschädigt wird, denn es profitieren auch die Massen der Künstler. Nahezu jede Gemeinde mit mehr als 100.000 Einwohnern ist reif für ein Museum. Erst durch diese Masse an Bauten werden sich zeitgenössische Künstler ihrer eigenen Musealisierung gewiß.

Auf den zauberhaften Titel Das Museum als kulturelle Zeitmaschine aber gingen allein die Philosophen ein. Seit Odo Marquard steht ihre Festredner-Kultur, die er zur Philosophen-Profession erklärte, in vollster Blüte. Die Pointe wird zum Hauptgeschäft — ein begrüßenswerter Umstand seit Symposien eine Ansammlung von Thesenpapieren sind und kein Ort der konträren Diskussion. Marquard-Kollege Herrmann Lübbe ist ein Musterexemplar solch gepflegter Unterhaltung. Seine These: Die Kunstepochen potenzieren sich, immer schneller entstehen neue Stilrichtungen, die Ismen drücken sich jährlich die Klinke in die Hand, um damit immer schneller ins Museum abwandern zu können.

Kein Mensch kauft heute noch „Neue Wilde“. Sie sind längst als epochale Werke in die öffentlichen Sammlungen gelangt. Lübbe schließt daraus auf die zunehmende Musealisierung auch der Gegenwart. Die Avantgarde und der Fortschritt produzieren Museen als geistige Heimat. Je kräftiger die Avantgarden und der Fortschritt zulegen, desto mehr hinterlassen sie aber auch ihren Abfall der Geschichte, den sie in Museen häufen. Trefflich lassen sich aus dieser These Apokalypsen schmieden. Bereits 15 Prozent Bausubstanz in Europa ist denkmalgeschützt. Nicht lange, dann ist ganz Europa denkmalgeschützt, ein Museum. So bläst der konservative Lübbe zum fröhlichen Abreißen und Vergessenmüssen, da die Welt andernfalls zu einer Datenbank ihrer Geschichte verkomme, in der ein weiterer Fortschritt keinen Platz mehr fände.

Wie das radikale Ende des Museums durch ein solches Denken eintreten könnte, entstand auch das erste Museum durch einen radikalen Umstand. Beat Wyss, früher Verlagslektor in Zürich, heute Professor für Kunstgeschichte in Bochum, dozierte mit einem vorzüglichen Lächeln um den Dreitagebart: Die Französische Revolution guillotinierte ihren König, dem sie zuvor einen bürgerlichen Namen verpaßte. Die Bürger transportierten ihren guten Namen aufs Schaffott und fuhren hernach hinaus nach Versailles. Sie betraten ein Schloß, das folgerichtig kein adeliges mehr war, und begutachteten staunenden Auges sein Interieur: Es war ihr erstes eigenes bürgerliches Museum, freilich adeliger, nicht aber guillotinierbarer Abstammung.

In Deutschland bekam man es mit der Angst zu tun. Kein Feudaler wollte, daß in seinem Wohnzimmer Bürger mit Kunstverstand herumspazierten. Bis Napoleon kam. Er plünderte, was ihm in die Finger fiel, und verschleppte es. Erst als Napoleon auf Zähnen heimwärts kroch, durfte der Adelsbesitz zurück in die alten Räume. Aber als was? Als Privateigentum? Wie hätte das auf den Bürger gewirkt? Kurzerhand wurde das Adelsgut zum Nationalgut erklärt und gelangte ins frisch geschaffene National-Museum. Hier durfte der Bürger mit geschwelltem Vaterlandsstolz promenieren, ohne dem Adel je ein Haar gekrümmt zu haben. Und so gesehen ersetzte Napoleon den Deutschen auch jene Revolution, die früher oder später sowieso ins Museum gehört hätte. Nur nebenbei: Die bürgerliche Revolution in der DDR wanderte bereits am Tage nach der Grenzöffnung in ein eigens geschaffenes Museum für Montagsdemonstrations-Transparente.

Peter Sloterdijk überfiel darüber die Melancholie. Das Museum als Augenhöhle, erstarrt wie unter dem Medusenblick. Melancholie überfällt, wer ein Museum betritt, in ihm herumläuft: Relikte, Dokumente — die eigene Gegenwart im Haus der Geschichte, voll mit Vor-Bildern, die vor einem selbst schon da waren und zum Überleben verdammt scheinen. Sloterdijk sinnierte so über einen Ort, den ich eingangs den demokratischsten aller kulturellen Orte nannte. Das Museum scheint zweckfrei, eine ästhetische Kirche, die gleichwohl auch als leerer Raum nichts einbüßen würde. Das Museum als Metapher der Demokratie? Das Museum wie sein Inhalt ist ein an sich selbst überlebendes Gebilde. Es zu gründen gelingt mit Leichtigkeit, es abzureißen wäre eines der schlimmsten Sakrilege an der Geschichte.