Die Liebe zur freien Fahrt

■ Über den Komponisten Bernstein

Er darf als der erste Künstler gelten, der in den Vereinigten Staaten von Nordamerika geboren wurde und es zu Weltruhm im „Klassik“-Sektor des Musikbetriebes brachte: Leonard Bernstein — als Pianist so respektabel wie als Dirigent brillant, ein Bestsellerautor bei Musikbüchern und ein veritabler Showmaster.

Untrennbar verbunden mit diesen Leistungen ist die kompositorische Arbeit, die gleichwohl Einbußen erfuhr durch den Terminkalender des Pultstars und die Eigendynamik des öffentlichen Auftretens, das ja süchtig macht. Die Arbeitsweisen selbst kollidieren: Jener Grad an Abschottung gegen die äußeren Einflüsse, jene Momente des Autistischen, welche die Schöpfer der Neuen Musik in aller Regel auszeichneten, ist der Dirigentenkarriere abträglich. Das offene Ohr aber für das, was rings herum in der (Musik-)Welt vorgeht, erweist sich als hinderlich beim Einschlagen des eigenständigen, unverwechselbaren kompositorischen Weges. Die kompositorische Arbeit Wilhelm Furtwänglers geriet so historistisch wie die des Raphael Kubelik. In den Kompositionen Michael Gielens oder Hans Zenders bleibt die Handschrift des in den Schreibarten der Moderne versierten Kapellmeisters unüberhörbar; sie wirken mit, jeweils Neues durchzusetzen — die Grenzüberschreitungen selbst aber nahmen sie selbst kaum einmal vor. Leonard Bernstein jedoch, das Multitalent mit den „fünf Leben“, die er sich selbst zuschrieb, hat auf seine Weise auch ein Komponistenleben geführt, das den Desideraten wie dem Hoffnungspotential des „Materialfortschritts“ in der Musik einfach auswich; also stimmig in sich und kontrastreich zu einer dominanten Entwicklung im internationalen Musikleben: das Komponieren als „A Quiet Place“.

Man darf ihn vielleicht mit Franz Liszt vergleichen, obwohl dieser partiell sehr avancierte kompositorische Lösungen suchte und sich zur „Zukunftsmusik“ bekannte (ein Kampfbegriff, der gegen ihn und Wagner polemisch ins Feld geführt wurde). Wie der große Franz, so kam auch Bernstein stets als glänzende Erscheinung, war Virtuose und Autor, reproduzierender Künstler und produktiver Geist. Gesellschaftsmensch und Pädagoge; war das alles auf seine Weise gut. Überragend freilich im Zusammenwirkern der verschiedenen Begabungen und Befähigungen — gerade aber die kompositorische blieb die am wenigstens entfaltete. Dabei weist die Werkliste eine stolze Länge auf, reicht von der Clarinettensonate, den „Anniversaries“ für Klavier, dem Song „I Hate Music“ und den Drei Tanzepisoden für Orchester (nach dem Musical „On the Town“) aus den Kriegsjahren bis zur theatralischen „Mass“ (1971), dem in München uraufgeführten „Songfest“ und den beiden Stücken, an denen er zuletzt gearbeitet haben soll (und die wohl Fragmente blieben): einer größeren Kammermusik und einer weiteren Oper ( mit dem Thema der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten). Ein Dutzend Bühnenstücke stellen den gewichtigsten Teil des torsohaften Nachlasses dar; das übrige trägt fast ausnahmslos die Züge der Gelegenheitsarbeit.

Immerhin: ein Dutzend große Ballettpartituren, Musicals, Opern. Ein spezifisch amerikanischer Beitrag zur Musikgeschichte unseres Jahrhunderts (und verankert in einer Schicht von Musikwillen und Kompositorischer Verfahrensweise, die noch nicht mit der durch die Nazis aus Europa vetriebenen Avantgarde- Komponisten und Musikgelehrten in Berührung gekommen war). Fasziniert von Gustav Mahlers „Jüdischkeit“ bekannte auch er sich zu seiner Herkunft: Mit der ersten Symphonie von 1943, in der die Mezzosopranstimme Jeremias Klage einflicht; mit der zweiten Symphonie von 1949, die — W.H.Audens Gedicht „The Age of Anxiety“ folgend — die größten Befürchtungen der Epoche laut werden lassen wollte; mit der dritten Symphonie vom Anfang der sechziger Jahre — „Kaddish“; mit den „Jubilee Games“ zum fünfzigjährigen Bestehen des Israel Philharmonic Orchestra (1986). Die „West Side Story“, 1957 uraufgeführt, brachte es unmittelbar auf 734 Vorstellungen — wohl nicht nur wegen der Amerikanisierung der Story von Romeo und Julia, sondern maßgeblich vermittels der Musik. Daß die liebende Maria die Tragödie überlebt und mit welchen Tönen sie es tut, das näherte den Opernstoff der Seifenoper an.

Bernstein focht das nicht sonderlich an, da er sich nun einmal als den „glücklichsten, den gesegnesten und begnadetsten Menschen, den er kannte“ verstand (und mit diesen Worten feierte er sich selbst in einem Gedicht, das die 'New York Times‘ vor zwei Jahren anläßlich des 70.Geburtstags des Meisters ganzseitig einrückte). Nein, dieser „Sonnenkönig der Weltmusik“ scheute vor Trivialität nicht zurück; nicht beim Reden und nicht beim Schreiben. Dabei blieb er eher „sunny boy“ als daß er, der demokratisch und für die Menschenrechte Engagierte, sich zum Monarchen entwickelte (er gehörte zum Typus der argumentierenden Künstler; wohl wissend, wie schlagend seine Sentenzen und Vorschläge sein konnten). Er mußte ja nicht lügen, wenn er die Druckfassung seiner Harvard-Vorlesungen mit „Musik — die offene Frage“ überschrieb und andererseits ein populistisches Buch mit Nichts als Freude an der Musik betiteln ließ. Er hatte einfach gewisse Berührungsängste nicht — wie er überhaupt „das Leben“ in ganzer Fleischlichkeit, Trivialität und unstillbarer Sehnsüchtigkeit anzupacken beliebte.

Schon 1950 hatte Bernstein einen Opern-Einakter komponiert — „Trouble in Tahiti“. Die Geschichte vom Hoffen auf einen windstillen Ort in den Stürmen des Lebens stammt aus dem Geist der tendenziell unendlichen amerikanischen Familienserien: die Helden, Sam and Dinah, reden so hartnäckig aneinander vorbei wie im wirklichen Leben. Sie machen sich wechelseitig für ihr „Unglück“, die erotische Unerfülltheit, verantwortlich (auch hier wiederum ein autobiographisches Motiv). Trotz respektablem Einfamilienhaus, zwei hübschen und munteren Kindern, bemerkenwertem geschäftlichem Aufstieg etc. sind die Verhältnisse nicht befriedigend — und gut schon gar nicht. Aber äußerlich sind sie stabil. Dreißig Jahre nach dem Erfolg dieser Broadway- Satiere auf den „American Dream“ kam der inzwischen weltbekannte Bernstein auf die Idee, das leichtfüßige Bühnenstück aus der Nachkriegszeit fortzuspinnen, mit dramatischer Rahmenhandlung zu umranken und kompositorisch aufzupfropfen. Auch avanciertere musikalische Mittel sollten die Nobilitierung forcieren. Das Ergebnis: „A Quiet Place“. Der Fluch der Couch — das wahrhaft amerikanische Zentralmotiv der Psychoanalyse im mittelständischen Alltag — ist diesem Montage-Kunstwerk eingewoben.

Gewiß, dem alternden Meister saß auch die Maxime der Verwertbarkeit im Genick und die Verdammnis des Erfolgs. Nur durch ein erneutes Mischen der Techniken versprach er sich breitestes Interesse (und so holte er auch bedeutend weiter aus als bei der nach Voltaire komponierten „Candide“, 1955/56): also verbanden sich sangbare Melodien mit wohltemperierter Moderne des Orchestersatzes, spätromantische Harmonik mit Jazzrythmen, Musicalsound mit einer Instrumentationstechnik, welche die Erfahrung des Dirigenten mit Werken der Moderne verraten. Der Spott über die Oper „Ruh und Frieden“, die, 1983 in Houston uraufgeführt, an die Scala und nach Wien kam, dann als Deutsche Erstaufführung durch John Dew nach Bielefeld, der Hohn über diese Oper als „Stilles Örtchen“, an dem sich die Wiener Kritik den A... abwischte, zielt mit bornierter europäischer Bosheit an der Tatsache vorbei, daß nicht alle Wege der musikalischen Moderne durch die Zweite Wiener Schule führten (die ja gerade an der schönen blauen Donau nur so bedingt geschätzt wird). Nicht alle Trampelpfade des Komponierens gingen durch die Verhaue der Serialität — und die breiten Boulevards schon gar nicht. Bernstein aber liebte die freie Fahrt — und entsprechende Straßen. Aus dem historischen musikalischen Material schöpfte er eklektizistisch, sehr bewußt: um seine Ziele zu erreichen. Er nahm, was er für die Wirkungen als tauglich befand. Denn mit der von ihm gereichten Musik wollte der Maestro die Millionen erreichen, denen es unablässig Botschaft, „gute Botschaft“ zu bringen galt. Leonard Bernstein ist nicht zufällig der Landsman und Zeitgenosse Billy Grahams. Von Frieder Reininghaus