Lektion gelernt

■ Junge europäische Fotografen im Martin-Gropius-Bau

Es darf wieder fotografiert werden. Die Zeit des fotografischen Selbsthasses, die ihren Ausdruck in hyperkargen Selbstreflexionen und einer puristischen medienanalytischen Auseinandersetzung im Zeichen der Concept art fand, ist vergessen. Allerdings, die Fotografie hat ihre Lektion gelernt. Ihr Repertoire an Stilmitteln, der Rückzug auf eine Art professionellen Schwarzweißdilettantismus sind ebenso Resultat konzeptueller Fotografie wie die Abkehr vom Einzelbild und die Verweigerung einer bloßen Abbildlichkeit. Dagegen setzt die Fotografie eine autonome Erzählstruktur. Wirklichkeitsausschnitte werden als Ausdruck einer bestimmten Idee in einen völlig anderen Sinnzusammenhang gestellt. Rückhalt findet diese Entwicklung in einer Gegenwartskunst, in der Kriterien wie Unbestimmtheit oder Vieldeutigkeit traditionelle handwerkliche und ästhetische Maßstäbe abgelöst haben. Zu sehen in der Ausstellung der Preisträger des Wettbewerbs junger europäischer Fotografen in den Serien von Kraratschian, Winckel, Benesova, Prieto, Delpierre und Timpner.

Einen anderen Gebrauch von Fotografie macht der erste Preisträger des Wettbewerbs, Dirk Braekman. Sein Doppelporträt zeigt eine unbekleidete Frau, die in zwei unterschiedlichen Positionen auf einem Bett kauert, den Blick dem Betrachter einmal zugewandt, das andere mal abgewandt. Die beiden Bilder erzählen keine Geschichte; Braekman verläßt sich auf die optische Präsenz der Bilder in einem Deutungszusammenhang, der seine Beunruhigung daraus bezieht, daß er den Assoziationen des Betrachters überlassen bleibt. Zwei einfache Bilder, in denen die Möglichkeiten des Mediums ganz zurückgenommen sind, um den Blick zu öffnen für ein unscheinbares Ereignis. Lediglich ein Augenblick, der seine Würde zurückerlangt, die ihm gewöhnlich von Fotografie vorenthalten wird.

Den dritten Preis teilen sich R. Muselik und Lenni van Dinther. Von den großformatigen Bildern van Dinthers zeigt das eine ein Pferd, das andere Fische. Offen bleibt, ob dieses »Bestiarium« jemals ein anderes Licht gesehen hat als dasjenige der Dunkelkammer, ob es Geschöpfe der Chemie oder des Pinsels sind. Das Gegeneinanderausspielen von Reproduktion und Simulation lebt von der Einsicht in das Eigenleben der Zeichen, von der Einsicht, daß auch und gerade das fotografische Abbild eine eigene Wirklichkeit konstituiert, die nicht weniger real ist, weil sie ihren Ort im Kopf des Betrachters hat. Eine andere Art der Konstitution einer künstlichen Wirklichkeit durch ein Abbild und einen Begriff führt Muselik vor. Ein Konzept allegorischer Fotografie. Die Arbeiten von Dagmar Sippel zeigen vier verschiedene »typisch touristische« Ansichten. Die Immergleichheit fotografischer Abbilder, der die Sucht nach Abwechslung und Exotik entspricht, wird in Beziehung gebracht zur Unveränderlichkeit des menschlichen Horizonts und zur Unfähigkeit, seiner Identität und Pose zu entkommen.

Drei Fotografen zeigen Serien mit Porträts, handwerklich gekonnt und schön. Dennoch ist es kein Zufall, wenn mir zu ihren Arbeiten nur der unlängst im Radio gehörte Satz einfällt: »Heute hört keiner mehr zu, warum dann ausgerechnet dem Radio.« Übertragen auf die visuelle Sphäre: Zu einer Zeit, in der die Luft verpestet ist vom »Gestank der Fotografie« (Robert Frank), in der sich der Omnipräsenz technischer Bilder niemand mehr entziehen kann, ist die Keuschheit der Augen unwiederbringlich verloren. In der Galerie ist sie nicht wiederzuerlangen und in der Fotogalerie schon gleich gar nicht. Fotografie muß nicht nur unter die Haut gehen, sondern auch unter die Netzhaut, hin zu den grauen Zellen. Irritation ist kein Luxus ambitionierter Fotografie, sondern die Bedingung ihrer Existenz. Ulrich Rüger

Die Ausstellung ist noch bis zum 8. November im Martin-Gropius- Bau zu sehen.