: »Das deutscheste aller Verkehrsmittel«
■ Professor Eckhard Kutter (51), Verkehrsplaner am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, über die Autokultur und den Verkehrskollaps/ Der Deutsche ist mit seinem Auto verheiratet
taz: Die SPD hat auf ihrem Berliner Parteitag vor kurzem beschlossen, wieder Autobahnen bauen zu wollen. Halten Sie das für die richtige Lösung bei der Berliner Autoflut?
Eckhard Kutter: Das Grundproblem im Verkehrssektor besteht darin, daß wir die Dinge auf lokaler Ebene überhaupt nicht lösen können. Wenn ich auf bundesrepublikanischer und europäischer Ebene eine Verkehrspolitik betreibe, die das Auto über alle anderen Verkehrsmittel stellt, dann kann ich in einer einzelnen Stadt nicht sagen, ich will ohne Autos leben. Die anderen europäischen Länder können doch nur lachen, wenn Bundesverkehrsminister Zimmermann eine Abgabe für Laster fordert und gleichzeitig 200 Sachen auf der Autobahn erlaubt. Außerdem wissen wir heute, daß wir wegen der Klimakatastrophe den Energieverbrauch im Verkehr werden einschränken müssen, um die Kohlendioxidwerte runterzuschrauben. Also müssen wir uns andere verkehrspolitische Konzepte überlegen. Das bedingt aber, daß die Kosten für das Auto und den Laster — die ja heute so niedrig sind, daß die Bundesbahn konkurrenzlos schlecht ist — in irgendeiner Form angehoben werden müssen. Das wiederum geht aber nur auf europäischer Ebene. Wie sollte ich das allein auf Berliner Ebene tun können?
Soll der Magisenat sich also darauf beschränken, Bundesratsinitiativen und Eingaben an die EG-Kommission zu entwerfen?
Nein, auf keinen Fall. Nun ist Berlin natürlich besonders schlimm dran, weil wir innerhalb der Mauer drei Jahrzehnte lang mit einem doch recht moderaten und konfortablen Verkehr gelebt haben. Der Westberliner fuhr im statistischen Mittel täglich fünf Kilometer Auto, der Hamburger — in einem ungefähr gleich großen Stadtgebiet — neun Kilometer. Das ist heute vorbei. Bloß: Im Ostteil der Stadt kann man heutzutage mit autofeindlichen Argumenten nicht landen. Die Menschen dort haben keinerlei Verständnis dafür, daß sie die Autos, die sie nun endlich kaufen können — und unsere Industrie freut sich darüber natürlich auch —, nicht sollen benutzen dürfen. Die einzige Möglichkeit zur Einschränkung besteht nun darin, daß wir im wohlhabenderen Westen den Leuten vormachen, wie man das Auto weniger benutzt.
Danach sieht es nun aber überhaupt nicht aus. Auch im Westen wachsen die Zulassungszahlen für Autos in den Himmel, obwohl wir schon jetzt die zweithöchste Autodichte der Welt haben. Allein in der Region Berlin soll die Zahl der Autos laut Prognosen in der nächsten Zeit von 1,5 auf 2,4 Millionen Stück und mehr ansteigen.
Das ist ja die große Lüge, daß die Politiker, vor allem im Wahlkampf, immer noch den Eindruck erwecken, als ob dieses auf Autos basierende System betreibbar wäre. Alle Befunde zeigen, daß das nicht geht.
Jetzt sagen Sie also doch, weg vom Auto. Nur nicht in der DDR?
Dazu noch ein anderer Punkt. Die Infrastruktur in der DDR ist in einem fürchterlichen Zustand: Das Straßennetz ist genauso desolat wie das Schienennetz. Jahrelang haben wir neidisch über die Mauer geschaut, weil sich dort der Güterverkehr zu 80 Prozent auf der Bahn abspielte und nur zu 20 Prozent auf der Straße. Aber letztlich ist diese Aufteilung um den Preis des Kaputtfahrens dieser Infrastruktur erzwungen worden. Die Bahn könnte momentan gar keine größeren Mengen an Gütern transportieren, obwohl die Menge der Güter gleichzeitig enorm angestiegen ist. Also werden diese zusätzlichen Mengen auf den Straßen transportiert, die das natürlich genausowenig verkraften. Nur: Ein Lastwagen fährt zur Not auch auf dem Feldweg, während ein Zug natürlich nicht abseits kaputter Schienen verkehren kann. Wir befinden uns also in einer Sackgasse.
Also hat die SPD doch recht, wenn sie mehr Autobahnen fordert?
Hm. Wenn wir immer nur »freie Fahrt für freie Bürger« predigen und weiter nichts tun, als auf die Deregulierung im Verkehrsgütergewerbe zu warten, so daß im Rahmen der EG ab 1993 hier auch irische und spanische Lastwagen fahren können, dann muß man in der Tat mehr Straßen bereithalten. Oder wir einigen uns auf EG- Ebene darauf, daß weitere Zuwächse im Straßenverkehr nicht erträglich sind. Auf örtlicher Ebene in Berlin erreicht man nichts. Wir brauchen statt dessen eine völlig andere Zuweisung der Kosten, die durch Verkehr entstehen. Die Bahn ist ja die einzige, die ihre Verkehrswege selbst baut, und ist deswegen immer so defizitär. Wenn ich mit dem vorhandenen Straßennetz auskommen will, muß ich überlegen, wieviel Verkehr es verträgt, und ich muß versuchen auf diesen Zustand hinzuarbeiten. Das geht vermutlich nur, weil man die variablen Kosten des Kraftfahrzeugs so hoch ansetzt, daß sich der Transport auf der Schiene eben rechnet. Die Kosten des Autos liegen heute nur bei zehn Pfennig pro Kilometer — in der Tat weniger als die Bundesbahn verlangt.
Wie sollen diese variablen Kosten erhöht werden? Über einen Benzinpreis von fünf Mark pro Liter?
Das ist im Moment sicherlich unrealistisch.
Das hängt auch von Saddam Hussein und den Amis am Golf ab...
Ich habe es immer sehr bedauert, daß der hohe Benzinpreis in der Bundesrepublik Anfang der achtziger Jahre nicht gehalten wurde. In Dänemark beispielsweise wurde er auf einem Niveau von knapp zwei Mark pro Liter gehalten, so daß erstens weniger und zweitens hubraumschwächere Autos angeschafft wurden.
In der Verkehrspolitik stecken wir derzeit einfach in einer Sackgasse. Wenn man den Verkehr bis zu einer bestimmten Stufe individualisiert hat, kann man nicht mehr zurück. Lebensgewohnheiten sind dann genauso festgelegt wie Industriestandorte oder geringe Fertigungstiefen. Damit ist gemeint, daß große deutsche Automobilfirmen ihre Einzelteile in 500 Kilometern Umkreis fertigen, was enorme Verkehrsfolgen zeitigt. Man produziert heute unter Einbeziehung der gesamten bundesrepublikanischen Infrastruktur.
Das System perpetuiert sich also selbst?
Genau. Und deshalb erreicht man mit Einzelaktionen nicht viel. Deshalb also: Autobahnen jein. Für mich nur unter der Bedingung, daß man dort nicht 200 Stundenkilometer fahren kann und der Hang zur Individualisierung des Verkehrs auf höherer Ebene gesteuert wird. Was die ehemalige DDR anbelangt, bin ich aber durchaus zuversichtlich: Wir werden dort in absehbarer Zeit keine neuen Autobahnen bauen, wir werden uns sicherlich zehn Jahre lang mit der Reparatur der kaputten Infrastruktur beschäftigen müssen, so daß kaum Geld für neue Projekte übrigbleiben wird...
...und die Berliner weiterhin hoffnungslos im Stau fest stecken.
Das ist natürlich keine Lösung, weil Staus durch Lärm und Dreck die Lebensbedingungen in der Stadt unerträglich verschlechtern. Wir müssen die Lebensbedingungen für die 1,3 Millionen Berliner innerhalb des S-Bahn-Rings auf einem Niveau erhalten, daß sie da wohnen bleiben. Sonst ziehen sie nach Potsdam, Strausberg und Bernau und produzieren damit eine Verdrei- oder Vervierfachung der Verkehrsprobleme. Also muß innerhalb der Innenstadtbebauung die freie Benutzung des Autos beschränkt werden. Viele Städte versuchen es dabei mit großangelegten Parkraumkonzepten, machen aber leider einen Fehler. Sie verbannen die Dauerparker aus der Innenstadt und handeln sich dafür acht bis zehn Kurzparker ein, so daß sich der fließende Verkehr verdoppelt und verdreifacht.
Warum dann die Innenstadt nicht ganz autofrei halten?
Den Wirtschaftsverkehr können Sie aber nicht ganz raushalten.
Der soll natürlich fahren dürfen, genauso wie Busse und Taxis.
Dann muß man aber auch den Anwohnern erlauben, ihr Auto dort zu parken. Ich muß einfach davon ausgehen, daß weiterhin Autos gekauft werden. Genauso wie in Japan. Japaner können ihr Auto schon seit Jahren nicht mehr benutzen, sie halten es aber, um es den Nachbarn zu zeigen, um es vielleicht noch sonntags zu benutzen, obwohl der Stau dann noch größer ist. Man besitzt halt ein Auto — so ähnlich wie eine Sitzgarnitur, um den eigenen Status zu dokumentieren. Das heißt, man muß auch noch das Anwohnerparken sicherstellen. Wobei jenes das beste Regulativ ist, um Ortsfremde rauszuhalten. Das Konzept der autofreien Innenstadt in Lübeck sieht ja so aus, daß man in der Pufferzone zwischen Innenstadt und angrenzenden Wohngebieten Einwohnerparken erlaubt.
Wäre das nichts für Berlin?
Wir werden zwangsläufig dazu kommen. In Kreuzberg und Neukölln kommen im Moment auf einen Hektar Wohn- und Bauland hundert Autos, die dort parken möchten. Das sind 400 Autos auf 800 Meter Straßenlänge. Also pro Auto zwei Meter Bordsteinkante.
Wer abends in Neukölln einen Parkplatz sucht, weiß das... Wäre denn nicht auch ein abgewandeltes »Stockholmer Modell« möglich? Das heißt, daß man hinter der Windschutzscheibe eine BVG-Umweltkarte stecken haben muß, wenn man in der Innenstadt parken will?
Das »Stockholmer Modell« gibt's gar nicht. Es soll erst ab Januar probiert werden...
...und das ist noch umstritten.
Außerdem weiß ich nach fünfzehnjähriger Erfahrung, daß alle diese Modelle nicht sonderlich viel bewirken. Das einzige, was wirkt, ist die Parkplatznot. Wenn das Auto nicht mehr zu parken ist, benutzt man es nicht. Wir brauchen eher das »Hongkong-Modell«: Am Auto ist ein kleiner Zähler installiert, und wenn ich eine bestimmte Linie wie beispielsweise den S-Bahn-Ring überquere, dann beginnt das Zählwerk zu zählen, und am Monatsende bekomme ich eine Rechnung über 500 Mark Ballungsabgabe...
Das dürfte Probleme für den Datenschutz mit sich bringen.
Aber wenn ich wie in Oslo eine Mautstelle errichte, wo ich bei der Einfahrt in ein bestimmtes Gebiet meinen Obulus entrichte, ist das doch genau das gleiche. Na ja, mir ist schon klar, daß diese Lösung auch nicht den großen Beifall finden wird, weil sie allen Vorstellungen vom Fahren als Freiheit widerspricht. Deshalb denke ich ja auch, daß wir um eine Anhebung der variablen Kosten des Autofahrens nicht herumkommen. Aber wir brauchen eine große öffentliche Debatte darüber, ob wir die europäischen Metropolen so erhalten wollen wie sie sind. Und wenn ja, müssen wir den Verkehr dort beschränken.
Berlins Radfahrer sind zumindest in der Innenstadt inzwischen schneller als Autofahrer. Warum propagieren die Verkehrsplaner das Radfahren nicht viel stärker?
Ich fahre auch seit 1983 Rad. Sie dürfen aber nicht vergessen, daß das Autofahren oft ganz andere Gründe als die Geschwindigkeit hat. Es gibt Leute, die eine große Distanz zwischen Wohnort und Arbeitsplatz brauchen, weil sie die Zeit im Auto zum Abschalten nutzen wollen. Sie wollen Ruhe vor ihren Kollegen und vor ihrer Familie haben, und ihnen ist vollkommen wurscht, wie lange der Stau noch dauert.
Der Anteil des Radfahrens am Gesamtverkehr ist in Berlin in den letzten zehn Jahren von drei auf sechs Prozent gestiegen. Immerhin. Aber es gibt da sicherlich eine Schallmauer. Die Angst vor dem Autoverkehr ist nach Umfragen für viele der wesentliche Grund, nicht radzufahren. Die Katze beißt sich also in den Schwanz. Durch die Förderung des Autoverkehrs werden alle anderen Verkehrssysteme entwertet.
Die Veränderungen in der DDR nach der Wende sind nirgendwo so sichtbar und manifest wie beim Verkehr, der sich in Menge und Geschwindigkeit verdoppelt hat. Die sogenannte Revolution scheint ein grandioses Mißverständnis produziert zu haben: daß nämlich Freiheit und freie Fahrt gleichzusetzen sind. Wie erklären Sie sich das?
Nun, die Holländer haben eine Radkultur, die Schweizer haben eine Tramkultur. Das deutsche Problem ist, daß wir nur eine Autokultur haben. Das Auto ist das deutscheste aller Verkehrsmittel. Hinzu kommt, daß die deutsche Industrie sehr stark im Autobau engagiert ist und erheblichen Druck auf die Politik ausübt. Hinzu kommt überdies, daß die Menschen in der früheren DDR dreißig Jahre lang via Fernsehen Verhaltensweisen vorgemacht bekamen, die sie nun auch ausüben wollen. Die Idee des Autos hat auch schon das Dritte Reich überdauert. In der DDR gab es zwar vierzig Jahre Zwischenspiel, aber nun herrscht auch dort diese Realität. Wir im Westen können uns in unserem Reichtum inzwischen auch verkehrseinschränkende Konzepte leisten, während die Menschen im Osten natürlich ganz schnell zumindest diese Illusion der Freiheit nachvollziehen wollen. Das ist ein rein psychologisches Problem, und es zeigt, daß der Deutsche eben doch mit seinem Auto verheiratet ist.
Aber muß man diesen Nachholbedarf bedingungslos akzeptieren?
Im Umgang mit Entwicklungsländern haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht. Einer meiner ehemaligen Mitarbeiter an der Technischen Universität ist nach Tansania gegangen, um sich mit Transporten im ländlichen Raum zu beschäftigen. Aber es ist völlig unmöglich, den Afrikanern beibringen zu wollen, Leute, für euch ist das Fahrrad eine angepaßte Technologie, solange man selber Daimler-Benz fährt.
In Tansania heißen die Deutschen deswegen auch »Wabenzi«...
»Oh lord, won't you buy me a Mercedes Benz«, singt Janis Joplin... Die afrikanische Erfahrung, daß man mit gutem Beispiel vorangehen muß, um glaubwürdig zu sein, gilt natürlich auch für unsere Brüder und Schwestern. Die waren ja noch nie in Italien und Spanien und wollen den Duft der großen weiten Welt auch mal schnuppern.
Mit anderen Worten: Wir müssen durch den Kollaps hindurch...
Tja.
...und zwanzig Jahre warten, bis wir eine gute Verkehrspolitik machen können?
Dann ist nur nichts mehr zu reparieren. Aber vermutlich muß die Katastrophe noch um einiges schlimmer werden, bis es auf europäischer Ebene zu Lösungen kommt — wobei Deutschland das letzte Land ohne Geschwindigkeitsbegrenzung ist. Gleichzeitig aber muß man sich mal folgende Größenordnung vor Augen halten: Die Gewinne eines maßgebenden Autokonzerns sind mit neun Milliarden Mark zeitweilig so hoch gewesen, daß damit der gesamte öffentliche Personennahverkehr in der Bundesrepublik einschließlich der U-Bahn-Neubauten hätte finanziert werden können. Und das war nur der Autobereich des Konzerns, er ist inzwischen noch viel größer... Die deutsche Nation ist einfach eine Automobilnation, und die neu hinzugekommenen Bundesländer sind, was den Glauben an die Automobilität anbelangt, auf dem Status von 1970. Interview: Ute Scheub/
Hans-Martin Tillack
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