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Über den Tod lachen können

■ Umstrittener Höhepunkt des 31.Griechischen Filmfestivals in Thessaloniki war „Singapore Sling“ von Nikolas Nikolaidis

Alljährlich streiten Griechenlands Filmgötter in Thessaloniki um höchsten Lorbeer. Daß es bei diesem seit drei Dekaden ausgetragenen Wettstreit keineswegs immer „olympisch“ zugeht, bestätigen Querelen schon im Vorfeld des diesjährigen 31.Griechischen Filmfestivals. Einige Filmemacher waren ob der Entscheidung einer Auswahlkommision, ihre Werke nicht im offiziellen Wettbewerb starten zu lassen, erbost und verzichteten ganz auf eine Teilnahme. Am vorletzten Tag (!) des Festivals kündigte daraufhin auch der Präsident der Jury seinen Posten auf, nicht zuletzt auch wegen der teils heftig-deftigen Publikumsreaktionen während der abendlichen Galavorstellungen. Hämische Schmähorgien, gelegentlich auch zwischen Filmemachern ausgefochten, gehören allerdings in Thessaloniki schon seit langem zum Ritual.

Lange orakelte die Jury in diesem Jahr über die Preisvergabe. Bei den Dokumentarfilmen entschied sie sich schließlich für Aenigma est von Dimitris Mavrikios, renommiertester einheimischer Dok-Filmer. Das einstündige Werk, dessen Titel eine der Leitsentenzen Giorgio de Chiricos zitiert, führt zu den auch in seiner Heimat weitgehend unbekannten Wurzeln des 1888 im thessalischen Volos geborenen Wegbereiters moderner Malerei. Die Spurensuche vor Ort macht mit brillanter Virtuosität bislang unberücksichtigt gebliebene Bezüge zum metaphysisch-emblematischen Schaffen de Chiricos transparent. Ein markantes Beispiel der in zahlreichen neueren Werken latenten künstlerischen Identitätssuche der relativ kleinen Filmnation, insbesondere vor dem Hintergrund der europäischen Integration.

An Altmeister Stavros Tsiolis ging der Preis für den besten Spielfilm. Liebe unter dem Chourmadia- Baum schickt zwei melancholisch wortkarge Helden auf Suche nach dem magischen Baum, vergeblich wie sich am Ende erweist. Nur noch der Name einer Busstation erinnert an den einstigen Ort der Weisheit. Die Welt ringsum hat sich verändert, nichts ist mehr so, wie es ihre Erinnerung bewahrt hat. Die ehedem vertrauten Straßen, Plätze, Bars bleiben leer und fremd. Längst ist der Faden zu früheren Bindungen abgerissen: Aus der rastlosen Irrfahrt gibt es keine Heimkehr.

Die Sensation des Festivals war jedoch der mit Spannung erwartete neue Film von Nikolas Nikolaidis. Wie schon bei dessen vier vorangegangenen Werken (zuletzt Morgenpatrouille, 1987) kam die Jury auch diesmal um einen Preis für den fünfzigjährigen Exzentriker, der bei seinen Landsleuten Kultstatus genießt, nicht umhin — trotz außerordentlich kontroverser Diskussionen. Nikolaidis' Vollwertkost aus dem Reich der Sinne, die sich keinen noch so abwegig erscheinenden Genuß entgehen läßt und ihn mit raffinierter Delikatesse serviert, läßt bravere Gemüter lustvoll-angewidert erschauern, sofern sie nicht vor dem vermeintlich infernalischen Chaos davonrennen. Sein Film Singapore Sling öffnet mit intellektueller Verve die Schleusen harmonisierender Gesellschafts- und Liebesspielereien. Eine Sturzflut angestauter Leidenschaften ergießt sich mit elementarer Gewalt über trockene rationale Lebenslügen. Die Tour de force zu den Gründen und Ab-Gründen menschlicher Existenz mag Zeitgenossen wie ein Science-fiction in die verborgene Innenwelt des „human body“ erscheinen.

„Wenn nicht über den Tod, worüber sollen wir sonst lachen“, fragt Nikolaidis. Sein Titelheld Singapore Sling jagt einer entschwundenen Liebe nach — einer Liebe, die alles be-gründete — und kann sie nicht aufgeben, auch wenn er ahnt, daß sie nicht mehr lebt. Als er in die Fänge zweier Frauen gerät, beginnt die unentrinnbare Tortur sexueller Obsessionen und sadomasochistischer Gewaltzeremonien, in denen das Geschlecht gleichermaßen zum Angriffspunkt wie zum -instrument wechselseitiger Unterdrückungsrituale wird. Nach gegenseitigem Morden, im Tode vereint, erreicht das Martyrium der Lust seine ultimative Steigerung. Harte Schwarz- Weiß-Stilisierung, die das Geschehen wie ein zweidimensionales Schauspiel vorführt, bewahrt den im nostalgisch überladenen Dekor der 40er Jahre schwelgenden Film vor naturralistischer Banalität. Nikolaidis ist kein Scharlatan des schlechten Geschmacks. Mit einem geringen Budget (ca. 150.000 DM) erzielt er eine Präzision und Perfektion der Einstellungen, die selbst seine Gegner in den Sog der artifiziellen Bildarrangments bannen. Das teilweise in englischer Sprache gedrehte 120-Minuten-Opus ist bereits bei einem US-Verleiher unter Vertrag. Der Deutschlandpremiere darf man gespannt entgegensehen. Roland Rust

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