Kilos spielen die größte Rolle

Dritte Deutsche Meisterschaft im Gewichtheben der Frauen in Dortmund: Aufs Gramm genau trainierte Körper zwischen Vorurteilen, Eisen und Haarschleifen  ■ Aus Dortmund Petra Höfer

Von oben, von der Tribüne aus betrachtet, sieht sie ziemlich winzig aus. Mädchenhaft. Ein rosaroter Glitzeranzug und reichlich blonde Locken hocken da unten, auf dem mattengefütterten Podest der Huckarder Sporthalle, vor 47,5 Kilogramm zwischen dicken Hantelscheiben an einer dicken Stange (das Ding allein wiegt schon 20 Kilo und wird gern zum Warmmachen benutzt).

Stefanie Stühler sucht noch nach dem richtigen Stand für die Füße und dem richtigen Griff in die weiß zugestaubten Zonen der Stange. „Das schafft die nie“, denkt der Laie. „Das schafft sie heute nicht“, sagt der Ex- DDR-Heber aus Berlin/Ost. „So wie die die zweiundvierzigeinhalb hochgebracht hat.“ Genauso kommt es: Im letzten Versuch kippt die EM- Sechste unter der Hantel einfach nach hinten weg. Die drei Leuchtvierecke am Podest bleiben dunkel. Alle drei Kampfrichter sind einer Meinung. „Dieser Versuch war leider ungültig“, schnurrt der Hallensprecher.

Aber so ist nun mal der Wettbewerb bei der 3.DM der Damen in Dortmund. Doreen Heller, 18jährige Gewichthebertochter und Hotelfachlehrling aus Chemnitz, hatte die 45 Kilo schon im ersten Versuch vorgelegt. Und Doreen gehört zur selben Gewichtsklasse: gut durchtrainierter Turnerinnenkörper („Eigentlich wollte ich im Geräteturnen ganz groß rauskommen, aber meine Mutter hat mich zu spät beim Trainingszentrum angemeldet, also hab' ich eben Gewichtheben gemacht — das ist wenigstens eine ausgefallene Sportart“), Straßbrilli im Ohr und rosa lackierte Fingernägel. „Saubere Technik“, hatte Monika Off, Gewichtheberin aus Fellbach, bewundernd gesagt, „sehr schnell.“ Aha, sagt der Laie. Der Laie interessierte sich momentan mehr für die Wettkampftaktik. Steffi Stühler nämlich muß nach Doreens 45 Kilo ihrerseits auf 47,5 Kilo steigern. Muß die als erste hochbringen. Sie selbst wiegt gerade mal 43,75 Kilo. An der 47,5- Kilo-Hantel wird sie zweimal scheitern.

Die große Tafel neben dem Podest zeigt an, was hier am meisten zählt: zuerst das Körpergewicht der Heberin, dann der Name. Kilos spielen beim Gewichtheben in jeder Hinsicht die größte Rolle. „Die“, sagt Monika Off und zeigt auf eine der Athletinnen unten in der Sporthalle, „die hat beim Wiegen noch 100 Gramm zu viel gehabt.“ 100 Gramm über ihrer eigentlichen Gewichtklassengrenze. Wer zu viel wiegt, wird raufgestuft. Und in der nächsthöheren Gewichtsklasse hätte so ein Untergewicht natürlich gar nichts zu melden. „Die hat sich also erstmal warm angezogen und ist 'ne Viertelstunde joggen gegangen.“

Monika Off startet erst am Nachmittag, in den höheren Gewichtsklassen — von 60 bis mehr als 82,5 Kilo. Ohne Gewichtheben, sagt sie, hätte sie totale Probleme mit der Figur. So weiß sie abends, was sie gemacht hat. In Kilogramm. Fünfmal die Woche, zwei bis drei Stunden. Ein wirklich optimales Training. Monika schätzt so etwas. Sie ist übers Fitneßstudio zum Heben gekommen. „Ich bin nicht gut“, sagt sie. Aber selbst mit „nur“ 37,5 Kilo Anfangsgewicht beim Reißen (heißt: das Gewicht wird in einer Bewegung zur Hochstrecke gebracht, während beim Stoßen eine Pause in Brusthöhe eingelegt wird) darf man im Damengewichtheben zur DM.

Insgesamt gibt es schließlich bloß 40 bis 60 aktive Heberinnen im Bundesverband. „Ich habe nie gesagt, daß ich gut bin“, grinst Monika. Aber sie hat Probleme mit den Knien in den Griff gekriegt — durch ausgewogenen Muskelaufbau. Mit der richtigen Hebetechnik lassen sich sogar Wirbelsäulenskoliosen beheben. Auch bei Frauen. Auch wenn das natürlich immer wieder angezweifelt wird. Immerhin: „Durch den insgesamt niedrigeren Körperschwerpunkt ist die Frau für das Gewichtheben eher prädestiniert als der Mann“, meldete unlängst die Fachzeitschrift 'athletic‘. „Im Rahmen betrieben“, sagt der Heber aus Berlin/Ost, „ist das ja ganz okay. Muß aber nicht unbedingt sein.“ Er mag Frauen lieber rund und weich.

Und nicht so wie Ulrike Herchenhein etwa, Titelverteidigerin ihrer Gewichtsklasse und EM-Zweite von 1989. Sie scheiterte am Samstag nur knapp an 102,5 Kilo, ein Gewicht, das noch nie eine Frau gestoßen hat. Ulrike Herchenhein wiegt über 82,5 Kilo. Und natürlich sieht man ihr das an. Ein Kraftkörper im lila Radlerdreß, Skinfrisur mit Zöpfchen und ein so mächtiger Gang, daß auf der Tribüne sofort getuschelt wird. „Zum Abgewöhnen“, sagt der Ex- DDR-Heber. „Bei der hast du ja Angst, was zu sagen. Die haut dich doch um.“

„Alle haben diese Vorurteile“, bestätigt Korinna Heinrich, mit 135 Kilo (60/75) Deutsche Zweikampf- Meisterin der Gewichtsklasse bis 56 Kilo, „daß wir aussehen wie kleine Nerlingers, also irgendwie dick und groß und schwammig.“ Korinna wiegt 53 Kilo, ein echtes Hemd, sehr zart, elegante Bewegungen. Früher war sie Turnerin und LeichtathletikMehrkämpferin. Dann Sportstudentin. An der Uni Saarbrücken hat sie irgendwann das Schwerpunktfach Gewichtheben belegt. Zehn der deutschen Gewichtheberinnen haben dort angefangen.

Heute heben sie wettkampfmäßig. Mit Haarschleife, Ohrgehängen und senfgelbem Aerobicdreß wie Christina Gombler, mit rosa Ringerhose und rosa Shirt mit Tupfen wie Silvia Weyland oder im lila Turnanzug mit hohem Beinausschnitt wie Korinna Heinrich. „Eigentlich“, sagt sie, „dürfen wir nur Trikots mit geradem Bein tragen. Aber heute waren sie mal wieder etwas großzügiger.“ Der Turnanzug ist ihr Siegerdreß. Darin fühlt sie sich am sichersten. „Bloß, wenn einen die Fotografen dann von hinten fotografieren, das ist echt nicht so toll. Du machst die Zeitung auf und denkst: Mein Gott, was ist das denn.“

Vereinskollegin Anne Klein, mit 117,5 Kilo deutsche Zweikampfmeisterin der Klasse bis 48 Kilo, verdrückt oben auf der Tribüne erstmal in aller Ruhe ein Stück Sahnetorte und wischt derlei Probleme mit der Plastikgabel weg. „Das Problem ist eher das Management.“ Nach ihrer Bronzemedaille im Stoßen bei der EM auf Teneriffa habe ihr noch keiner vom Verband gratuliert. Und auf das 30.000-Mark-Spenden-Angebot eines Schwertransportunternehmers, das ihr Trainer dem Verband vermitteln wollte, hätte bis heute noch niemand reagiert.

Unten, auf dem Podest, machen sie dafür gerade einen neuen Star. Simone „Sissi“ Hahn, mit 125 Kilo „nur“ Zweikampf-Zweite ihrer Gewichtsklasse bis 60 Kilo, löst zur Siegerehrung den kunstvoll geflochtenen Dutt unterm Gejohle eines New- Waver-Fanclubs. Oben, auf der Tribüne, schwenken sie Transparente („Sylt grüßt Kaiserin Sissi“), unten zerdrückt einer vor Aufregung seine Blümchen. „Am Anfang“, hatte Doreen Heller gesagt, die in der Ex- DDR lange nur im Rahmen von Demonstrationswettkämpfen „bei den Jungs“ mitmachen durfte, „fand ich Gewichtheben ziemlich blöd. Aber es hat seinen ganz eigenen Reiz. Heute macht mir das Spaß. Ich bereue gar nichts.“