Sexueller Mißbrauch kein Thema

In dem Arnsberger Prozeß sprachen die Gutachter die drei Angeklagten voll schuldfähig  ■ Von Bettina Markmeyer

Arnsberg (taz) — Ein Gutachterstreit bestimmte den bisher letzten Tag der Beweisaufnahme in dem aufsehenerregenden Arnsberger Gerichtsverfahren, das inzwischen als „Blutschandeprozeß“ ('Quick‘) durch die Öffentlichkeit geistert. Wegen gemeinschaftlichen Totschlags stehen in Arnsberg Marco Bolz, dessen Ehefrau Manuela und deren Mutter, Waltraud Tröger, vor Gericht. Marco Bolz hatte am 22. Januar dieses Jahres vor dem Gefängnis in Werl den gerade entlassenen Ex-Mann von Waltraud Tröger und Vater seiner Frau, Ulrich Tröger, erschossen. Bolz, der auch vor Gericht zu seiner Tat steht, hatte mit seiner Tat das ausgeführt, was Ehefrau und Schwiegermutter wollten und unterstützten. Denn beide Frauen lebten in übermächtiger Angst, daß sich mit Trögers Haftentlassung ihr Leidensweg aus der Vergangenheit fortsetzen würde. Ulrich Tröger hatte seine Tochter seit ihrem zwölften Lebensjahr vergewaltigt, sie gezwungen, ein Kind von ihm auszutragen. Mit Befehlen, Prügeln und Demütigungen aller Art hatte er seine Familie jahrelang terrorisiert. Tröger saß zuletzt acht Jahre in Haft, sechs davon für den Mißbrauch seiner Tochter.

Zum Ende der Beweisaufnahme nahmen nun Psychologen und Psychiater vor dem Arnsberger Landgericht Stellung zu der für die Höhe der Strafe wichtigen Frage, ob die drei Angeklagten vermindert schuldfähig seien. Nur ein Gutachter, der Psychologe Siegfried Binder, kam zu dem Ergebnis, Marco Bolz sei während des Tatzeitraums — die in der Familie gemeinschaftlich betriebene Tatvorbereitung ging über mehrere Tage — „erheblich vermindert steuerungsfähig“ gewesen. Bolz habe die „Todesangst“ seiner Frau übernommen und schließlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen als Tröger zu erschießen. Ein zweiter Gutachter empfahl dem Gericht dagegen, die Tat allein rechtlich zu beurteilen. Bolz sei nicht aus einer psychischen Extremsituation zu der Tat getrieben worden.

Offensichtlich als Widerpart zu einer breiten Öffentlichkeit, die ihre Sympathien für die beiden weiblichen Angeklagten deutlich erkennen läßt, versuchte sich am vergangenen Freitag der Gutachter von Manuela Bolz und Waltraud Tröger zu profilieren. Der Neurologe und Psychiater Michael Becker aus Bad Lippspringe attestierte Waltraud Tröger eine „neurotische Entwicklung“ und ihrer Tochert Manuela eine „Persönlichkeitsfehlentwicklung“. Beider „Störungen“ seien jedoch nicht so stark, daß sich die Tat direkt darauf zurückführen lasse. Beide Frauen seien voll schuldfähig.

Beckers Gutachten hatte am Freitag im Arnsberger Gerichtssaal für Unruhe gesorgt. Dabei war es nicht das Gutachten selbst, das Empörung provozierte, sondern die Art, wie der Neurologe es vortrug und begründete. Zwei seiner Kollegen hatten in ihren Ausführungen deutlich gemacht, daß die Brutalität, die Manuela Bolz und Waltraut Tröger hinter sich haben, sie angerührt hätten. Der Münsteraner Josef Emunds hatte gar eingestanden, daß dieser Fall ihn „an die Grenzen“ seiner Wissenschaft führe. Währenddessen inszenierte Gutachter Becker mit erschreckender Unsensibilität und einer Eitelkeit, die ihn phasenweise über seine eigenen Sätze stolpern ließ, einen Kollegen-Streit auf Kosten der dabeisitzenden Angeklagten. Kern seines Gutachtens über Manuela Bolz war die Aussage, daß die Frau vor der Tat zwar psychisch unter Druck gestanden habe, jedoch nicht derart, daß sie verstört oder impulsiv gehandelt habe. Vielmehr habe sie nach Auswegen gesucht, die Tat im Familienkreise geplant und trotz ihrer vielfach bekundeten Angst auch keine Anzeichen extremer „Instabilität“ gezeigt wie beispielsweise einen Selbstmordversuch. Nach dieser Aussage distanzierte sich Kollege Binder offen von Becker und der Anwalt der Angeklagten fragte entgeistert, wie die Mutter dreier kleiner Kinder wohl durch einen Selbstmord hätte verhindern sollen, daß eben diese Kinder in die Hände des gewalttätigen Großvaters gerieten.

Spätestens hier zeigte sich, wie nötig gerade in diesem Prozeß, in dessen Kern das Thema sexueller Mißbrauch und Männergewalt stehen, kompetente, anteilnehmende und mit den verheerenden Folgen des sexuellen Mißbrauchs vertraute Psychologinnen gewesen wären. Ein Mann wie Becker war nicht fähig oder nicht willens, das Trauma des vergewaltigten Mädchens zum Ausgangspunkt seines Gutachtens zu machen. Daß Manuela Bolz trotz ihrer bedrückenden Kindheit eine Ehe führt, selbst Kinder großzieht und die in sie gesetzten Erwartungen als Hausfrau und Mutter erfüllt, galt dem Neurologen als Beweis ihrer „Lebensfähigkeit“ und ihrer Normalität und damit als Grundlage ihrer Schuldfähigkeit. Vor den Stellungnahmen der Gutachter hatten am dritten Verhandlungstag Verwandte von Ulrich Tröger und Häftlinge, die ihn aus dem Gefängnis kannten, über ihn ausgesagt. Ehemalige Mitgefangene schilderten Tröger als ruhig, verläßlich und geschäftstüchtig. Die Verwandten, besonders Trögers Schwester, beteuerten, der Mann habe nach der Haft ein neues Leben anfangen und seine Familie in Ruhe lassen wollen. Dies habe er auch in Briefen geschrieben. Im übrigen sei er „sehr häuslich“ und nie gewalttätig gewesen. Die Schwester von Waltraud Tröger warf dieser in ihrer Zeugenaussage vor, häufig gelogen und Tröger verleumdet zu haben. Drohungen aus dem Knast, so bezeugten die Verwandten, habe Tröger nicht verbreiten lassen.

Am Freitag behauptete demgegenüber ein ehemaliger Mitgefangener Trögers, der Getötete habe ihm gesagt, er brauche das Geld, das er mit Geschäften im Knast verdiente, für Waffen, da er „draußen noch eine Rechnung offen hätte“. Er wolle „die Leute plattmachen, die ihn in den Knast gebracht hätten.“ Der Prozeß wird am Mittwoch mit den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung fortgesetzt. Das Urteil wird am Freitag erwartet.