Der Vertreter mit dem Musterkoffer

■ Günther Gerstner meuchelt „Emilia Galotti“ und ihren Autor: ein Freiburger Schlachtfest

Der Anfang ist ein Traumspiel: Auf der im Halbdunkel liegenden Bühne räkeln und dehnen sich drei Ballerinen in die laszivsten Posen, Lockerungsübungen für den Herrn, der demnächst hier eintreten und es sich wohlgehen lassen möchte. Doch es kommt nicht Hettore Gonzaga, Weiberheld und Prinz zu Guastalla, sondern ein deutsches Schulmeisterlein. Mit dem Gestus eines Oberstudienrats gibt uns der Schauspieler Franz Keller eine Einführung ins Stück, und ein Lacherfolg ist ihm sicher.

Im Theater das Theater erklären: Das ist natürlich unsinnig und nach fünf Minuten auch langweilig. Keller deklamiert einen Text des Frankfurter Theaterkritikers Georg Hensel, und zur Strafe muß er dann fast drei Stunden lang durchs Stück geistern, sich abwechselnd in den Kopf und in die Brust schießen und dabei möglichst viel Blut ins schöne saubere Bühnenbild spucken.

Mit diesem Eröffnungsplot, dem einzigen Regie-Einfall der ganzen Inszenierung, weist der Regisseur Günther Gerstner seine Aufführung als eine Art Racheakt aus, als Strafexpedition: Das Bildungsbürgertum soll bluten, und wir spielen jetzt ein neues Spiel. Es heißt: Klassiker vernichten. Mit Verlaub, Ihro Gnaden: Kommt diese Idee nicht ein wenig spät? Aber wir wollen folgsam sein: Mit Lessing haben wir nichts am Hut. Sein Stück von den Intrigen der politischen Managerklasse, von der erotischen Verführbarkeit der Körper — das verstecken wir ganz schnell unter ganz viel Rokokoplunder. Ein Mann, der nur begehren, aber nicht lieben kann, eine Frau, die den Mörder ihres Gatten haßt und plötzlich bemerkt, daß dieser Mörder sie sexuell erregt — das alles interessiert Gerstner überhaupt nicht. Seine Figuren haben kein Problem, sie wollen nur demontiert werden. Und das geht so: Der Prinz, bevor er seine Perücke aufsetzen darf, wird uns erst mal halbnackt vorgeführt; sein massiger Oberkörper ist in ein lächerliches Frauenkorsett gezwängt, das Fleisch wölbt sich gespenstisch nach außen, dafür rutscht ihm seine Bundeswehrhose ständig von den Hüften — ein transvestitischer Spinner von der Hardthöhe, der Mann ist erledigt, bevor er das erste Wort gesagt hat.

Der Maler Conti („Die Kunst geht nach Brot“) ist ein prustender, eitler Geck — abgehakt. Vater Odoardo läuft ein und brüllt sich erst mal die moralinsaure Seele aus dem Leib — für den Rest des Abends hat er dann keine Puste mehr. Emilias Mutter kommt immer in Hauspantoffeln daher, und Emilia selber gibt sich als widerstandsloses graues Mäuschen im Faltenrock, das nach den ersten Liebesregungen noch anämischer wirkt als zu Beginn.

Mit dieser Methode, die Männer mit einem Faustschlag zu erledigen und den Frauen jeden Piepser von vornherein zu untersagen, schlachtet Gerstner drei Stunden lang an Lessings Stück herum. Fairerweise läßt er uns zwischendurch immer wieder von einem exzellenten Countertenor trösten, der am Cembalo vom Sterben und vom Liebesleid singt. Die bedauernswerten Freiburger Schauspieler aber sind an diesem Abend weitaus unwichtiger als die Bühnenarbeiter, die ständig über die Szene wuseln, auf- und abräumen und uns ausdauernd signalisieren, daß Theater etwas mit Arbeit zu tun hat. Wer hätte das gedacht?

Wie immer, wenn fast alles verloren ist, naht Rettung von einem, der stets das Böse will und doch das Gute schafft: Marinelli, Drahtzieher für den Prinzen, Frauenbeschaffer und Mordkomplize, ein Schurke reinsten Wassers, hält das quietschende Getriebe der Aufführung wenigstens notdürftig in Gang. Dietmar Nieder spielt die Rolle mit einer mephistophelischen Freude am Anderssein, am Funktionieren der Amoral. Nieder muß zwar auch diese rokokohaften Rüschenhemdchen und Schnallenschühchen anziehen, psychologisch aber geriert er sich wie ein genialischer White-collar-worker aus dem Pentagon oder dem Bundeskanzleramt. Marinelli ist es auch, der uns das Handwerkszeug des Regisseurs erklärt: Als er dem Prinzen die Pläne für die Entführung der Emilia erläutert, Ermordung des Grafen Appiani inclusive, da klappt er einfach ein Samsonite-Köfferchen auf und zeigt darinnen eine Art Bühnenmodell für den Überfall, schiebt kleine Figürchen und Püppchen durcheinander, läßt eine Kutsche fahren — und der Prinz, der diesmal sehr zurückhaltend agierende Manfred Meihöfer, kauert davor und schaut sich das an wie ein Kind, das zum ersten Mal mit der elektrischen Eisenbahn spielen darf.

Gerstner selber spielt wahrscheinlich am liebsten Indianer oder mit kleinen Zinnsoldaten. Außerdem muß er jede Menge Märchen- und Gruselfilme der Marke Steven Spielberg gesehen haben, denn sein Handelsvertreter Marinelli hat noch weitere Special effects, Tricks und Bömbchen in seinem Musterkoffer: Den neugierigen Bedienten schneidet man einfach die Ohren ab, die Gangster wohnen in Pappkartons und tragen eine King-Kong-Maske, und der strenggläubige Vater Odoardo meuchelt die unkeusche Emilia per Laserstrahl: Er hebt einfach den Dolch, Emilia faßt sich an den Kopf, löst eine Haarspange und damit auch den Blutbeutel, den der Maskenbildner dort freundlicherweise plaziert hat, und dann sinkt sie nieder...

Dieses Offenlegen von Theatermitteln ist sympathisch, aber nicht abendfüllend. Die Weigerung, Geschichten zu erzählen, die kindliche Lust, an Effekten zu basteln — das könnte auch dem Jungregisseur Günther Gerstner gefährlich werden. Ein Zauberlehrling will er sein und ein Rebell; aber leider landet er oft schwitzend mitten im Deklamierten.

Günther Gerstner zieht nun um ans Berliner Schillertheater, um die dortige Klientel das Fürchten zu lehren. Das, kein Zweifel, wird ihm gelingen. Wir wünschen angenehmes Unwohlsein. Christian Gampert